Nenn mich Poes
Pauline de Bok
Ich bin in die Jahre gekommen. Und auch wenn eine normale Katze vielleicht sieben Leben hat, oder neun, was mich betrifft, habe ich längst den Überblick verloren. Jeder, der mir einen Namen gegeben hat, hat mir ein Leben geschenkt. Und es gibt keine Katze, die auf so viele Namen gehört hat wie ich. Aber auch keine Katze, die so oft namenlos zurückblieb.
Es sieht so aus: Ich lebe auf einem Gehöft mit vier Wohnungen, für vier Künstler, sie kommen von nah und fern und bleiben manchmal ein halbes Jahr. Im Winter stehen die Wohnungen leer. Dann leben die Künstler wieder in der Stadt. Jedes Frühjahr kommen neue, sie suchen Ruhe, um zu malen, zu schreiben, zu komponieren, sie suchen die Stille. Glauben sie. Sie leben jeder für sich, denn mit der Phantasie der anderen können sie nichts anfangen. Wenn sie von niemandem gestört werden, sprudelt die Kunst von allein, hoffen sie. Aber in ihrer städtischen Unerfahrenheit vergessen sie eines: dass sie hier, von niemandem gestört, schnurstracks im Zentrum ihrer Einsamkeit landen. Manch einer eilt schon nach wenigen Tagen zurück an den Stammtisch, dem er geglaubt hatte entfliehen zu müssen. Die anderen plagen sich mit ihrer Verlorenheit ab.
Zu diesem Zeitpunkt habe ich mich schon ein paar Mal gezeigt. Ich weiß auf Anhieb, wer eine Schwäche für mich hat. Das sind nicht immer die netten Menschen, die mir einen guten Tag wünschen, mich im Vorübergehen streicheln oder mir einen Leckerbissen zustecken. Nein, es sind oft gerade die Menschen, die mich links liegen lassen, aus Katzenangst (Ailurophobie), wegen einer Keimphobie oder weil sie meine Verführungskünste fürchten, weil ihr Schuldgefühl schon auf der Lauer liegt, weil jeder sagt, dass sie vernünftig sein sollen, Katzen nicht streicheln, um Gottes Willen, und schon gar nicht ins Haus lassen. Das steht nämlich auf einem Blatt Papier, das sie bei der Ankunft bekommen.
Mir braucht keiner was von den Menschen zu erzählen. Ich habe eine einmalige Entwaffnungstechnik. Ganz entspannt postiere ich mich vor den Terrassentüren. Ich tigere nicht auf und ab, ich bettle nicht hibbelig um Einlass, ich sitze zufällig da. Anmutig putze ich mein seidiges Fell, achte darauf, dass meine Bewegungen ein Wunder an Grazie sind, und bin mir selbst genug. Sodass sie mir fernöstliche Weisheit andichten und metaphysische Kräfte. Ich modelliere mein kätzisches Sein nach ihren Illusionen über die Felis catus.
Ich mache mir einen Sport daraus, zu raten, wie lange es dauert, bis ich im Haus bin. Manchmal faulenze ich schon nach einem halben Tag auf dem Sofa und warte auf die Leckerbissen, die mir mein neuer Mitbewohner bringt.
Aber auch Geduld finde ich etwas Schönes, ich bin reichlich damit bedacht. Erst wenn es wirklich nicht mehr vorangeht, ziehe ich nach und nach alle Register, wenn es sein muss, bin ich eine Hungerkünstlerin. Ich weiß, wie ich es anstellen kann, für das ungeübte Auge spindeldürr auszusehen, völlig fertig und sterbenskrank. Spätestens dann öffnet sich jede Terrassentür.
Als Hauskatze wirklich akzeptiert bin ich, wenn ich einen Namen bekomme. Sie geben sich Mühe damit, die Künstler, schmücken mich mit den Namen von Frauen aus Weltliteratur, Kunst und Film, von verlorenen Geliebten, heiligen Müttern und unerreichbaren Kurtisanen. Ich bin das Surrogat für ihre tiefsten Sehnsüchte, das Allheilmittel gegen die Einsamkeit. Ich bin die Psychoanalytikerin am Kopfende der Couch, ich schweige und weiß alles über den Vorgang der Übertragung. Nenn mich Lotte, nenn mich Löwchen, nenn mich Gretchen, Kleopatra, Evita, Leila, Liz oder Lulu, nenn mich Freya, Phoenix, Shiva oder Caramia, nenn mich Yoko, Baby, Daisy, Fee oder Zaza – nenn mich Poes.
Ich bin das, was sie brauchen. Jeden Tag, wenn mein Feind, der Hund, seine Runde über den Hof dreht, fliehe ich, sobald ich merke, dass sich ein Menschenauge auf mich richtet. So zeige ich großzügig meine Abhängigkeit, spiele das ängstliche Kätzchen und gönne dem Künstler seine Heldenrolle. Nur wenn mich niemand sieht, bin ich mein normales Katzen-Ich und stürme fauchend und mit aufgeplustertem Schwanz auf den Hund zu, sobald er angetrottet kommt. Worauf er sich schnell verkrümelt.
Nie werde ich eine Maus, einen Maulwurf oder einen Vogel fangen, wenn ein Mensch in der Nähe ist. Es könnte ihn verstören. Die Menschen wollen nicht wahrhaben, dass ich ein Raubtier bin, dass ich jage, töte, meine Beute quäle und zerfleische und mit Haut und Haar verschlinge. Lieber füttern sie mich mit teuren Delikatessen aus der Dose. Zuerst habe ich das nicht kapiert, aber inzwischen weiß ich, dass sie mir so ihre Liebe bekunden wollen. Deshalb lassen sie sich nicht lumpen. Und dass im Dosenfutter tote Tiere stecken, die ein elendes Leben auf ein paar Quadratzentimetern hinter sich haben, als ob sie nichts als Fleischmaschinen sind, das blenden auch meine Künstler der Bequemlichkeit halber vorübergehend aus.
Seltsam eigentlich, ich hatte geglaubt, Menschen würden sich von uns Tieren durch ihren Verstand unterscheiden, aber jetzt weiß ich, dass da mehr ist, dass in ihrer Brust zwei Herzen wohnen: ein intelligentes und ein sentimentales. Für mich zählt natürlich Letzteres: ihr weiches Herz lässt sie schnell dahinschmelzen in ihrer Liebe zu dem Tier, das sie zufällig um die Pfote wickelt. Und wenn ich das bin, ist das prima, die Häppchen, die sie mir auftischen, schmecken ausgezeichnet, und ich brauche nichts dafür zu tun. Heimlich gehe ich trotzdem noch auf die Jagd, um fit zu bleiben für schlechtere Zeiten. Und natürlich, weil es ein Kick ist, das Katz- und Maus-Spiel: die Beute immer wieder kurz entwischen lassen und dann erneut zuschlagen – bis sie sich kaum noch regt. Dann in Ruhe abwarten, bis sie wieder mit einem Muskel zuckt, und hoppla, ein neuer Hieb auf den sterbenden Körper, so lange, bis sie tot ist oder mir zum Hals raus hängt. Und wenn ich nicht gerade proppenvoll bin, fresse ich sie als kleinen Snack nebenbei auf.
Weil ich so streichelbar bin, sehen es mir die Menschen nicht an, aber ich bin hier auf dem Hof die Oberkatze. Die Stellung habe ich durch jahrelange Beobachtung und Konzentration erworben, durch Imagination, Strategie und Gerissenheit – der Mensch ist ein lebenslanges Studienobjekt – und nach und nach habe ich meine Verführungskünste verfeinert. In mir hat sich eine Top-Schauspielerin entpuppt, ich spiele alle Rollen, meine Gegenspieler streiten sich um meine Gunst, sie packen mich theatralisch in Watte, und schließlich habe ich ja auch immer die Wahl unter vier von ihnen. Erst wenn ich mich für einen Favoriten entschieden habe, sind die anderen Katzen an der Reihe. Großmütig schaue ich mir an, wie sie mich nachäffen, und obgleich die eine schneller lernt als die andere, kann mir keine von ihnen das Wasser reichen.
Wenn ich meinen Künstler eingewickelt habe, wähle ich mein Alter entsprechend seinem Bedürfnis. Ich bin so alt, wie ich mich gebe. Bei dem einen präsentierte ich mich jung, naiv und unverdorben, beim anderen altersschwach und verbraucht. Denn der eine sieht sich gern als der Erste, der mich gegen die große, böse Außenwelt beschützt, während der andere lieber der Letzte ist, der mich retten kann, bevor ich elend krepiere. Das Schema ist simpel: sie wollen der Erste oder der Letzte sein.
Alt oder jung, ich muss schwach erscheinen, abhängig, oder ich muss an einem kleinen Gebrechen leiden, das geht auch, solange ich nur keinen Rotz, kein Blut, keinen Eiter und nichts Erbrochenes absondere oder im Haus pinkle oder kacke. Meine Glanzrolle ist die des lebendigen Kuscheltiers, ein Tier mit nichts als sauberen Bedürfnissen.
Weil ich klein bin und flauschig, kann ich den Naivsten weismachen, dass ich blutjung bin. Obwohl Herr Klagelied ins Gästebuch geschrieben hat, dass er mich hat sterilisieren lassen, wollen sie es nicht glauben. Das muss eine andere Schildpattkatze gewesen sein, da sind sie sich sicher, auf keinen Fall ihr liebes kleines Miezekätzchen, Schmeichelkätzchen, Schmusekätzchen. Und dass, obwohl ich jahraus, jahrein zwei, drei Würfe hatte, bis ich fast daran gestorben wäre. Ich bekam nun mal regelmäßig einen Rappel und ließ mich von den wilden Katern aus dem Wald nehmen, die mir brünstig auf den Fersen saßen. Aber alles im Rahmen, wirklich, immer ganz diskret nur bei Nacht und Nebel, insbesondere, wenn die Gefühle, die mein Mitbewohner für mich hegte, einen erotischen Touch bekommen hatten.
Einmal war hier ein holländischer Maler, der nannte mich Poes. Schnuckiputzi, sagte er dann, Poespoespoes. Und ich nahm darin etwas wahr, das mich innerlich erröten ließ: poes wird dort an der Nordsee auch für Möse benutzt. Zum Glück wusste das niemand, ehe du es merkst, bist du als Muschi auf vier Pfoten bekannt, obwohl es liebevoll gemeint war, genau wie Schmusepussi, sprich Sahneschnittchen. Aber ich kann nicht vorsichtig genug sein, denn wenn sie die Schlampe in mir entdecken würden, die verlebte Bratze, dann könnte das die Lauterkeit ihres Gefühls unwiederbringlich schädigen. Sie könnten sich angewidert von mir abwenden. Das kann ich mir nicht erlauben, meine Reputation ist mein Ein und Alles. Obwohl das Leben ohne Lüste und Nachwuchs öde ist und mir der Sinn des Lebens fehlt, bin ich Herrn Klagelied dankbar.
Was will ich noch mehr, dachte ich lange Zeit: ich bin im Haus, ich habe einen Namen, also bin ich in Sicherheit. Aber manchmal schlug die Langeweile zu, und dann unternahm ich einen kleinen Extratest, um auszuloten, wie tief die Gefühle meiner Mitbewohner waren, einfach, um meine Eitelkeit zu kitzeln: vorsichtig versuchte ich, ihre Hand zu lecken. Sobald sie es zuließen, hatte ich den Gipfel erreicht. Glaubte ich.
Bei Frau Krähenfuß war alles anders. Sie litt schon bald an der aggressivsten Form des Rettersyndroms. Die harmlose Variante kannte ich bereits: Jedes Jahr gab es garantiert jemanden, der mich von meinen Niesanfällen befreien wollte, ich musste mich schon etlichen Medikamentenkuren unterziehen – die reinste Verschwendung, der Schnodder kommt sofort wieder. Aber Krähenfuß wollte mich operieren lassen, sie hielt die Gliedersteifheit, an der ich wegen meines Alters gelegentlich leide, für ein Trauma als Folge eines Verkehrsunfalls – sie hasste Autos – ich sei angefahren worden, meinte sie, und dabei sei mein Schultergelenk zertrümmert worden. Nur eine Operation könne mich retten. Meine eigene Diagnose lautete ganz anders: Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, bei Frau Krähenfuß wohlgemerkt.
In meinen guten Momenten sprang ich deshalb demonstrativ durchs Haus, kletterte auf den Baum, jagte sogar einmal den Hund öffentlich weg – worauf sie in Panik nach draußen stürmte. Meine Aktionen machten keinen Eindruck, sie blieb dabei: ohne sie würde ich sterben, sie machte alle Leute damit verrückt. Gefährlich wurde es, als sie mich in die Stadt mitnehmen wollte, für immer. Ich verschwand schleunigst im Wald und ließ eine untröstliche Dichterin zurück.
Heute Morgen ist der letzte Künstler abgereist. Er hatte nicht den Mut, sich von mir zu verabschieden, er ist durch das Tor geflohen, verfolgt von meinem Bild auf seiner Netzhaut. Noch lange saß ich da auf der frischen weißen Schneedecke unterm Apfelbaum, mein geflecktes Fell leuchtete in der Nachmittagssonne. Und ich wusste, dass die Stille vor Weihnachten angebrochen war, und mit einem Mal wurde mir klar, dass es mein letztes sein würde. Den Winter, der jetzt kommt, werde ich nicht überleben. Diesmal nicht. Einmal bekommen die Künstler also doch recht. Mir ist seltsam zumute. Nie mehr brauche ich eine Rolle zu spielen. Langsam verliere ich den Boden unter den Füßen, nie mehr eine Rolle, urplötzlich weiß ich nicht mehr, wer ich bin.
Was macht das schon? War es jemals anders? Mittlerweile existiere ich in Hunderten Porträts aus Farbe, Ton, Stein oder Pixeln, ich bestehe aus zahllosen Geschichten und Gedichten, aus Kritzeleien in kleinen Heften, in Blogs und Tweets, ich schweife in Musikstücken umher, die in der ganzen weiten Welt Konzertsäle füllen – horch, dieser Lauf, das bin ich. Ich bin nur eine Muse, ein Vehikel, ein Plüschtier, das lebt.
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