Kultur Heute, DLF, 9.8.2015:
Land als Quelle literarischer Stoffe
Nicht als Inspirationspause, sondern als wertvolle Quelle literarischer Stoffe versteht die gebürtige Niederländerin Pauline de Bok die Landschaft im Norden Brandenburgs. In den 1990er-Jahren schrieb de Bok eine äußerst beachtenswerte literarische Reportage über das, was der Zerfall der DDR mit den Menschen auf dem Lande macht, fernab von Hauptstadt und Weltpolitik.
[…]
In ihren Romanen “Blankow oder Das Verlangen nach Heimat” und im bald erscheinenden “Jochen, schaff dir eine Kuh an. Geschichten aus Fürstenhagen” nimmt sich Pauline de Bok der kleinen Geschichten an, aus denen die große politische Geschichte erst hervorgeht. Sie sucht in alten Stasi- oder Stadtarchiven oder spricht mit den Dorfbewohnern. Der Landarzt, der in de Boks Text über die Nachwendezeit in Fürstenwerder gegen den regimetreuen Bürgermeister protestiert, steht 25 Jahre später beim Wortgarten-Festival vor der Lesebühne und dankt der Autorin sichtlich gerührt. (Cornelius Wüllenkemper)
Lesung am 7. August 2015 in der großen Scheune in Fürstenwerder
Zurück nach Fürstenwerder | 25 Jahre nach der Wende
Im Jahr 1986 war ich zum ersten Mal in Fürstenwerder um den Ost-Berliner Fotografen Ulrich Wüst zu besuchen. Jedes Jahr, im Sommer oder über Silvester, bin ich zurückgekommen. Im Februar 1990 habe ich einen Monat lang im Gutshaus meiner Freunde in Bülowssiege gewohnt. Ich arbeitete damals für eine Monatszeitschrift in Amsterdam und war in die Uckermark gereist mit der Frage: Was macht die Wende mit den Menschen – weit weg von Berlin und der Weltpolitik?
Heute lese ich etwa ein Drittel der Geschichte: nämlich die Reportagefragmente über die damalige Dorfspolitik.
Ich lade Sie ein, mit mir in die Zeit vor fünfundzwanzig Jahren zurückzureisen.
Der betagte Karl Schulz steht an seiner Gartenpforte in der Sonne. Der Frühling ist dieses Jahr zu früh gekommen. Fast beunruhigend. Er schaut über die Straße, die Hauptstraße des Dorfs, die Ernst-Thälmann-Straße, früher die Prenzlauer. […] Ach, da läuft der kleine Klaus-Dieter, auf dem Weg ins Gemeindeamt. Bürgermeister, was für ein Hohn. Briefe schreiben an Modrow, dass die Kirche das Volk aufhetzt, dass der Staatssicherheitsdienst auf der Stelle wieder eingeführt werden muss, dass Neofaschismus droht. Im Namen der ganzen Gemeinde, nur die Sache war die, dass keiner davon wusste. Vor dem Krieg hätte man ihn mit einer Peitsche aus dem Dorf gejagt.
Klaus-Dieter Durdis ist sehr beschäftigt, er steckt bis zum Hals in Problemen. Mitte dreißig, Plateausohlen, eine laute, volle Stimme. Von dem Schwung, mit dem er mich noch vor wenigen Wochen begrüßte, ist nichts mehr übrig. Damals hieß es noch: „Ein bisschen Publicity für mich und meine Gemeinde kann nie schaden.“ Ein Mann von Welt, dem man nichts vormachen konnte. Und auf meine Frage, welchen Einfluss die Kirche im Dorf hatte, schnaubte er verächtlich und zeichnete auf das Millimeterpapier vor ihm einen Kreis: „Das ist meine Gemeinde, und das“ – er malte einen winzigen Kringel an den Rand –, „das ist die Gemeinde vom Pfarrer.“ Er zeichnete ein paar Männchen, „und der hat ja auch nur die Köpfe.“ Legte den Stift hin, zufrieden. Das ist ein für alle Mal klar. Aber er war nicht kindisch: „Wenn wir uns begegnen, grüßen wir uns, wenn’s sein muss, schlagen wir uns sogar gegenseitig auf die Schultern.“ Bei den Kommunalwahlen im Mai will er sich als Mitglied der PDS – der erneuerten SED – als Kandidat für das Amt des Bürgermeisters aufstellen lassen. KDD, Witwer und Hobby-Aquarianer.
Ein paar Wochen später. Die Wende ist auch in Fürstenwerder angekommen, und seitdem wird kräftig an Durdis’ Stuhl gesägt. Seit elf Jahren ist er Bürgermeister von Fürstenwerder. Er wird nicht mehr kandidieren. Er hat nicht die geringste Chance. Leider. Er war nun mal in der Partei, das kann er jetzt auch nicht mehr ändern. Er hat aufs falsche Pferd gesetzt. Diesmal steht er nur widerwillig Rede und Antwort. Von einem hektographierten Blatt liest er alle gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aktivitäten im Dorf vor. Eine beeindruckende Liste. „Fürstenwerder hat eine ausgezeichnete Infrastruktur.“ Aber die Dorfbewohner klagen, vor dem Krieg sei es viel besser gewesen, und junge Leute und Frauen fänden keine Arbeit. Durdis brüstet sich mit dem Dutzend Läden.
[…]
Zufrieden lässt Pfarrer Jörg Hemmerling den Blick über den Betsaal der Kirchgemeinde schweifen, der gerammelt voll ist. Bestimmt hundert Leute. Das gab es noch nie. Seine Einladung war erfolgreich. Die monierten Passagen aus Durdis’ Briefen sind an die Wand projiziert. Da sitzt er, Klaus-Dieter, etwas versteckt an der Wand. Er hat zu diesem Anlass sogar einen Anzug angezogen, einen Schlips umgebunden und Pomade ins Haar gerieben. Dass er überhaupt erscheint, war nicht zu erwarten. Vor drei Jahren, als Hemmerling seinen Dienst als Pfarrer hier antrat, hatten sie hin und wieder Kontakt. Bis Durdis zu ihm sagte: „Bitte hier keine Perestroika und keine Glasnost, das ist das Schlimmste, was uns passieren kann.“ Seitdem hat er Durdis gemieden. Im November 1989 fing der dann auch auf einmal mit Demokratie an, mit einer Versammlung fürs ganze Dorf. Ein Witz war das, auf jede Frage antwortete er „ich weiß es nicht“ oder „dafür bin ich nicht zuständig“ oder „dafür bilden wir eine Kommission“. Im Januar 1990 berief er einen Runden Tisch ein, ohne sich vorher zu fragen, was ein Runder Tisch eigentlich ist. Die alten SED-Genossen saßen en bloc da. Was für ein Opportunist. Er hat versucht, in die SPD einzutreten, auch im Januar, zwei Tage, nachdem er aus der SED ausgestiegen war, er sagte, die Partei sei für ihn gestorben. Und als das nicht klappte, hat er es noch bei den Liberalen versucht.
Pfarrer Hemmerling bekam die beiden Briefe an Modrow durch Zufall zu Gesicht. Er möchte, dass das Dorf ein Urteil darüber fällt. Der Superintendent der Evangelischen Kirche aus Prenzlau leitet die Versammlung. Hemmerling fängt an und berichtet von den Briefen.
Dann wird Durdis das Wort erteilt. Mit unsicherer Stimme liest er vom Papier ab. „Im Namen des Rats der Gemeinde danke ich dem Pfarrer dafür, dass er diese Versammlung organisiert hat. Es ist auch in unserem Interesse, dass der Sachverhalt geklärt wird. Der erste Brief kam im November zustande, in einer Zeit, als die Emotionen hochkochten. Überall gab es Demonstrationen, Versammlungen von Leuten aus allen möglichen Ecken, auch aus der Kirche. Wir bedauern es, die Rolle der Kirche falsch beurteilt zu haben und möchten uns dafür entschuldigen. Mit dem Brief wollten wir einen Beitrag zur Meinungsbildung leisten. Grenzpolizei und Volkspolizei waren nicht imstande, unsere Sicherheit zu gewährleisten. Was uns vorschwebte, war nicht eine stalinistische Stasi, die die Bürger ausspioniert, sondern ein Sicherheitsdienst, der endlich was für sie tut. Beim ersten Runden Tisch im Dorf spürten wir Angst bei der Bevölkerung. Deshalb der zweite Brief. Wir glaubten, dass wir mit diesen Briefen im Sinn der Dorfbevölkerung handelten …“
Hohngelächter unterbricht seine Ausführungen. Widerwillig, in der Defensive, fährt er fort: „Täglich gibt es Drohungen, Bombenmeldungen, sogar gegen Kindergärten. Ich sah es als meine Pflicht an, Stellung zu nehmen gegen neofaschistische Tendenzen.“
Der Superintendent relativiert: „Das ist mal irgendwo anders im Land passiert. Hinter einem Bombenalarm stecken oft Kinder, vielleicht, weil sie Konflikte mit ihren Eltern haben. Das Wort haben jetzt die Menschen hier im Saal.“
Werner Toews steht auf: „Ich bin bestürzt, dass die Kirche zu Unrecht so beschuldigt wird. Sie war die Kraft, die dafür gesorgt hat, dass die Wende ohne Blutvergießen vor sich ging.“ Er verhaspelt sich. „Ich kann vielleicht nicht so gut reden, aber was ich sage, kommt von Herzen.“
Eine Frau: „Ich bin schockiert, sehr schockiert. Der Rat der Gemeinde benutzt noch die alten Methoden. Hier trifft ein altes Sprichwort zu: Der Fuchs ändert das Haar und bleibt, was er war.“
Der Saal weidet sich, alle Augen sind auf Durdis gerichtet. Aus zwei Metern Abstand sieht ihm der Dorfarzt direkt ins Gesicht: „Ich bin sehr betroffen, so ungeheuerliche Dinge zu hören.“ Seine Stimme zittert: „Ich entziehe Ihnen als Bürgermeister mein Vertrauen.“ Tosender Applaus.
Einer nach dem anderen macht seiner Empörung Luft. Durdis verliert die Fassung: „Das Misstrauen, das mir entgegenschlägt, bedeutet für mich das Ende meines Amts.“ Zum ersten Mal bekommt auch er Applaus. „Es war falsch, dass ein paar Leute die Briefe im Namen der ganzen Gemeinde geschrieben haben.“
„Namen, wir wollen Namen hören!“, schreit der Saal.
„Der stellvertretende Bürgermeister und ich und …“
Zögernd steht Frank Schmidt auf, ein junger Klempner, der seit November Mitglied des Rats der Gemeinde ist. Nach dem Runden Tisch sagte Genosse Grahl zum Bürgermeister: ‚Wir müssen einen Brief schreiben, wir müssen unbedingt einen Brief schreiben.’ Durdis antwortete: ‚Gut, kommt morgen früh ins Gemeindeamt.’“
Als der Name Grahl fällt, das ist der Chef der LPG-Tierproduktion, wird es im Saal lebhaft: Jetzt lässt er die Katze aus dem Sack, der Grahl steckt dahinter. Natürlich. Der ist auch immer noch Parteimitglied. Es heißt, er war bei der Stasi. Schweigend steht Grahl hinten im Saal, hochgewachsen, mit schwarzem Lenin-Spitzbart.
Eine Frau ruft entsetzt: „Den Brief haben also drei SED-Genossen über die Köpfe von 1032 Einwohnern hinweg geschrieben!“
Grahl muss sich nun äußern. Er entschuldigt sich, produziert einen Wortbrei mit sächsischem Akzent, redet und redet.
Der Saal wird unruhig, ungeduldig, eine Frau ruft ärgerlich: „hätte, hätte, hätte …“
Der Superintendent bittet Grahl, sich kürzer zu fassen. Der Saal genießt es sichtlich.
Grahl merkt, dass ihm noch längeres Reden mehr schadet als nützt und schließt mit den Worten: „Wir sind froh, dass es heute so positiv abgelaufen ist.“
Die Dörfler wittern Demokratie, zum ersten Mal. Sie möchten, dass der Rat der Gemeinde eine Bürgerversammlung organisiert, die befugt ist, Beschlüsse zu fassen. Lieber heute als morgen. Aufgekratzt verlassen alle im Nu den Saal.
Schüchtern und verloren steht Durdis mit seiner Freundin bei der Tür und starrt auf seine Schuhspitzen.
[…]
Werner Toews blickt spöttisch durch seine dicken Brillengläser: „Wir haben ihm gestern seine eigene Scheiße unter die Nase gerieben, diesem kleinen, arroganten Aufschneider.“
In einer ehemaligen Speisesaalbaracke von Hitlers Arbeitsmaidenlager betreibt Toews mit seinem Bruder eine private Werkstatt. Hinter seiner Drehbank kommentiert er pausenlos die Politik. „Deutschland, einig Vaterland … unsere Huren laufen schon über den Ku’damm. Du kommst doch nicht etwa aus Amsterdam?“ Seine Augen leuchten beim Gedanken an dieses Sodom und Gomorrha. „Zu uns in die Werkstatt kommen immer viele Leute, auch SED-Genossen. Alle wollen unsere Meinung hören. Sie wissen, dass ich eine große Klappe habe, die hatte ich immer schon. Was mir durch den Kopf geht, kommt auch raus. Ich bin das schwarze Schaf im Dorf, wie der Rest von meiner Familie. Immer als Kapitalistenschwein beschimpft. Parteilos, katholisch, keine Jugendweihe.“
Werner Toews ist ein Begriff. In der Gaststätte Zink sagt man über ihn: „Nicht immer richtig, laut, aber wichtig.“
[…]
Klaus-Dieter Durdis schleicht wie ein Schatten durchs Dorf. Er hat zu hoch gepokert, zu spät hat er gemerkt, dass die alten, vertrauten Spielregeln nicht mehr gelten. Alle seine Handlungen werden erneut auf die Waagschale gelegt, und die Waage ist jetzt anders geeicht. Im Dorf brodelt es von Zorn, Klatschgeschichten und Rachegedanken. „Er hat die Wahlergebnisse gefälscht letztes Jahr im Mai, das Kommunistenschwein.“ „Er ist in die Wohnung der einzigen Familie aus dem Dorf gezogen, die in den Westen abgehauen ist, der Schmarotzer.“ „Der kleine Schwindler, es liegt an seiner Statur, deshalb will er groß sein.“ Sein Kopf soll rollen.
Der ehemalige Pfarrer Zellmer meint zu den Beschimpfungen und Wutausbrüchen: „Diese Zeit der Wende erinnert stark an 1945. Jeder sagt: ‚Ich habe keine Schuld’, aber alle haben sie mitgejubelt und ihre roten Fähnchen geschwenkt. Alles dreht sich um Arbeit, Geld verdienen und ein Mittelklasse-Auto. Wer etwas auf sich hält, fährt einen Wartburg oder Lada und hat – der absolute Traum – eine Datsche. Das beschäftigt einen ununterbrochen, das füllt den Horizont völlig aus. Die Leute hier sind ein bisschen aus der Zeit gefallen, sie leben nur in ihrer eigenen Welt. Keiner ist es gewohnt, Verantwortung zu tragen. Schimpfen, das können sie.“
Und das tun sie voller Überzeugung. Aber hin und wieder taucht eine beunruhigende Frage auf: Wer wird der neue Bürgermeister? Wer riskiert Kopf und Kragen, wer gibt seine Arbeitsstelle auf, wer springt ins kalte Wasser einer so ungewissen Zukunft, wer geht das Risiko ein, der nächste Sündenbock zu sein? Die Dorfbewohner schweigen. Von Gott und der Partei verlassen, ohne Richtlinien aus Berlin, sind sie hilflos. Vorher hat der Staat ihnen das Denken abgenommen, demnächst der Westen?
Gut hundertfünfzig Leute sitzen bei der nächsten Bürgerversammlung angespannt im Saal des Kulturhauses. Die Gemeindevertreter und die aus ihrer Mitte gewählten Ratsmitglieder sitzen auf dem Podium. Der Tanz kann losgehen. Den Vorsitz führt Stegemann, ein pensionierter Lehrer, der – ungewöhnlich für diesen Beruf – immer parteilos war.
Der Rat der Gemeinde will zurücktreten, aber Stegemann warnt vor Chaos. Er schlägt vor, nicht das Misstrauen auszusprechen, sondern nur Missbilligung zu äußern und den Bürgermeister und die Gemeinderatsmitglieder zu bitten, bis zu den Wahlen im Mai im Amt zu bleiben. „Zugegeben, die Briefschreiberei war eine merkwürdige Sache, aber ich frage Sie alle: Sind Sie frei von Fehlern?“
Durdis spricht, in Jeans und hellblauem Hemd, mit wiedergewonnener Energie. Niemand lacht, niemand spottet, der Saal hört zu. „Ich habe mich ein Dutzend Mal entschuldigt, ich habe Modrow geschrieben, dass ich die Briefe zurücknehme, mehr kann ich nicht tun. Wenn die Gemeindevertreter wollen, trete ich jetzt sofort zurück, aber denken Sie daran: das Amt zu übernehmen erfordert Courage. Jeder braucht sich nur selber mal anzugucken, um das zu wissen.“
Grahl steht auf, mit unübersehbarem Widerwillen. „Oh nein!“, seufzt der Saal. „Ich fasse mich heute sehr kurz“, sagt Grahl. „Ich lege mein Amt nieder.“
Stegemann fordert die Gemeindevertreter auf, das Wort zu ergreifen, pro forma geben ein paar ihren Senf dazu. Dann stimmt die Gemeindevertretung bis auf vier Mitglieder für den Vorschlag von Stegemann. Pfarrer Hemmerling, in schwarzer Lederjacke mit Fransen und Stickereien, unternimmt noch einen Versuch, umzusteuern: „Jemand, der beim letzten Mal die Ergebnisse gefälscht hat, kann jetzt nicht die Wahlen organisieren. Die Entschuldigungen des Bürgermeisters akzeptiere ich, aber Entschuldigen reicht nicht aus. Ich finde, es müssen auch Konsequenzen gezogen werden.“
Und der Tierarzt, der gerade einen SPD-Ortsverein gegründet hat, setzt hinzu: „Dass die Gemeindevertretung mal eben abstimmt, so einfach geht das nicht mehr. Das Volk hat dem Bürgermeister das Vertrauen entzogen, dieses Schauspiel hat mit Demokratie nichts zu tun.“
Sie bekommen lauten Applaus, Hände gehen im Saal nach oben. Jetzt fängt es an!
Stegemann sagt: „Prima Bemerkungen. Wer will, kann einen Runden Tisch einberufen, ich schließe die Versammlung.“
Einen Moment wogt Bestürzung durch den Saal, dann ziehen alle resigniert ab.
Im Gasthaus Zink fasst ein zufriedener Stegemann kurz darauf das Treffen zusammen: „Schön kurz und schmerzlos.“
Werner Toews lehnt mit seinem großen Körper aus dem kleinen Fenster seiner Werkstatt und schreit Stegemann an, der draußen steht: „Weißt du, was du bist? Ein Klempner! Du hast gestern alles zusammengeklempnert. Und du willst ein Intellektueller sein!“
Er schlägt das Fenster zu und sagt: „Der Pfarrer ist auch ein Schlappschwanz, der denkt nicht im Traum daran, wirklich was zu tun. Der Kleine war wieder völlig obenauf. Reden kann er wie ein Buch, er ist nicht dumm. Die Versammlung hat er mit Stegemann gut ausgekungelt.“
Es ist wieder voll in der Werkstatt der Brüder Toews. „Die Leute fühlen sich verscheißert, aber tief im Innern sind sie auch froh, dass dieser Durdis noch im Amt bleibt. Es ist doch tieftraurig, dass wir keine Kandidaten haben, keiner will Verantwortung übernehmen. Die Leute hier, die sind immer noch nicht aufgewacht. Sie träumen vom großen Geld – aber ein Deutscher verkauft seine eigene Mutter für einen Zigarettenstummel –, sie machen Ausflüge in den Westen und wissen nicht, dass wir eigentlich was Besseres zu tun haben.“
[…]
Klaus-Dieter Durdis läuft mit forschen Schritten durch die Ernst-Thälmann Straße. Weit ausholend winkt er mir zu. Ein Stück weiter, bei der Gartenpforte neben dem Konsum und der volkseigenen Apotheke, steht Karl Schulz.
Er mag die alten Bilder in seinem Kopf. Er hat keine Angst vor der Zukunft. Geschäfte machen liegt ihm im Blut. Wer weiß, vielleicht verkauft er alles noch für einen Batzen Westgeld.
Dieser Text ist eine Kurzfassung von ‘Der Blick von außen. Wendezeiten in Fürstenwerder’, der 1990 als ‘Het laatste gat voor de hel’ erschien im niederländischen Magazin O und 2013 in ‘Mitteilungen des Uckermärkischen Geschichtsvereins zu Prenzlau’, Heft 20.S. 112.
Aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert, mit Unterstützung von Karl-Wilhelm Schulz und Henning Ihlenfeldt.
Pauline de Bok, geboren 1956, lebt in Amsterdam und in Mecklenburg. Sie studierte Theologie, Philosophie und Germanistik und arbeitet als Journalistin, Übersetzerin und Autorin. Sie publizierte 1990 eine Reportage über Fürstenwerder, die 2013 in deutscher Übersetzung erschien. Ihr Roman > Blankow oder Das Verlangen nach Heimat erschien 2009 bei Weissbooks (und 2011 im Insel Verlag) und wurde in den Niederlanden für den M. J. Brusse-Preis nominiert. 2010 wurde ihr der Annalise-Wagner-Preis verliehen. Sommer 2016 wird in Deutschland ihr erzählerisches Sachbuch > ‘Jochen, schaff dir eine Kuh an’. Geschichten aus Fürstenhagen erscheinen.