Die letzte Generation DDR-Kinder erobert jetzt die Buchläden und Medien. Ihre Kunst ist meistens leichtfüßig, voller Erzählfreude und Witz. Dabei liegt die Ostalgie immer auf der Lauer und ist Aufarbeitung weit weg. So auch bei Claudia Rusch, deren Buch Meine freie deutsche Jugend 2003 erschien.
Auf dem Buchumschlag steht ein Mädchen, das ihre Zeigefinger in beiden Ohren gesteckt hat und eine irritierte Miene macht. Hinter ihm spielt eine Blaskapelle von Jungen in weißen Hosen auf Trompeten mit Fahnen. Etwas stimmt nicht, da ist mit Photoshop getrickst worden. Entfernung, Größe und Schärfe des Vorder- und Hintergrunds passen nicht zusammen. Das Mädchen ist die Autorin Claudia Rusch im Alter von sieben Jahren. Außenseiterin, damals schon.
Meine freie deutsche Jugend besteht aus fünfundzwanzig autobiographischen Kurzgeschichten, in den Rusch ihre Jugend in der DDR zurückruft, mit einem scharfen Auge für das bedeutungsvolle Detail: der Geruch in den Intershops, die Ostsüßigkeiten, die unebenen Betontafeln der Autobahn; wer je in der DDR gewesen ist, riecht, kostet, spürt es selbst fast wieder, wenn er die Zeilen liest.
Mit ihrem Debüt schließt Claudia Rusch (1971) sich den Schriftstellern und Regisseuren, deren Generation die letzte ist, die in der DDR aufgewachsen ist, an. »Wir waren die letzten echten Ossis. Und die ersten neuen Wessis«, fasst sie prägnant zusammen. Mit Erzählfreude holen sie die verschwundene Welt ihrer Kindheit hervor, und stehen oft auf der Kippe, am Rande der Ostalgie. Mit Lakonik und Witz versuchen sie dieser Falle zu entgehen.
Als Claudia fünf war, zog sie mit ihrer geschiedenen Mutter von der Insel Rügen in das Berliner Umland um und später nach Prenzlauerberg, wo die Mehrheit der Ostberliner Oppositionellenszene damals lebte. Der dissidente Chemiker Robert Havemann und seine Frau gehörten zu den engsten Freunden von Claudias Mutter. Sie allen waren keine Gegner des Sozialismus, sondern vertraten den Sozialismus mit menschlichem Gesicht. Im Hintergrund drohte immer die Staatssicherheit, die Kakerlaken waren immer ganz nah. »Ich habe die Entscheidung meiner Eltern, in der Opposition zu leben, nicht mitgetroffen«, schreibt sie, »ich war ihr ausgeliefert.« Trotz all dem betrachtet Rusch ihre Jugend als glücklich. Sie war ein Sonntagskind, und wurde von ihrer lebhaften, weisen Mutter und ihrem hingebenden Stiefvater sehr geliebt. Die Geschichten sind nicht chronologisch geordnet, Rusch springt hin und her: vor der Wende, nach der Wende, und nicht zu vergessen während der Wende. So ist ihr Leben nun einmal eingeteilt. Über den 9. November 1989, als sie nachts zum ersten Mal in einer Kreuzberger Kneipe landete, die ganzen bunten Flaschen bestaunte und letztendlich einen Bananensaft auswählte, schreibt sie: »Hier an diesem Tresen offenbarte sich, dass auch ich ein ganz normales DDR-Kind war. Nicht die Stasi allein, auch die Mangelwirtschaft hatte meine Jugend geprägt.«
Weil die Geschichten fast so kurz wie Kolumnen sind, hatte ich manchmal das Gefühl, eine nach der andere wie Bonbons weg zu essen, obwohl ich manchmal satt war oder es mir nicht mehr geschmeckt hat. Manchmal bleiben Ruschs Erzählungen zu privat und anekdotisch. Da hat man die Empfindung, dass sie bloß ihr Tagebuch abgetippt habe. Auch die Sprache verliert da jede Kraft. So endet zum Beispiel die Geschichte »FKK am Mittelmeer«: »Und so wurde unsere erste Begegnung mit dem Mittelmeer doch noch ein voller Erfolg.«
Irritierender noch sind die vielen Zeilen, worin Rusch sich von ihrer Selbstgefälligkeit mitreißen lässt. Unverschämt trägt sie ihre Intelligenz, Witz und Begabungen zur Schau. Auch ihre Schwächen betrachtet sie gerührt. Sie schafft es leider nicht, ihre narzisstischen Antriebe zu beherrschen.
Vielleicht bin ich jetzt zu hart mit ihr. Aber ich bin es, weil ich von einigen ihrer Geschichten richtig ergriffen war. An der Spitze steht »Der Verdacht«. Nachdem Claudia und ihre Mutter ihre Stasi-Akten gelesen haben, machen sie die erschütternde Entdeckung, dass sich hinter der IM mit dem Deckname »Buche« eigentlich nur die Großmutter verstecken kann. »Der Verdacht« ist eine spannende, ehrliche Analyse vom Verrat des Verdachts. Wo es Rusch ernst ist mit ihren Geschichten, dort wird es überzeugend und beklemmend.
»Die DDR in mir ist nicht einfach verschwunden, nur weil das Land nicht mehr existiert« schreibt sie. Über dieses Thema möchte ich gerne einen Roman von Claudia Rusch lesen. Wenn sie einen richtigen Aufarbeitungsroman schreiben würde, wäre vielleicht auch ihr Kokettieren mit ihrem Schicksal als Außenseiterin aufgelöst. Weil sie es nicht mehr bräuchte.
Claudia Rusch: Meine freie deutsche Jugend, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2003,
Taschenbuch, 157 Seiten, ¤ 7,90, ISBN 3-596-15986-5