Von Freunden höre ich gerne, was sie lesen. Und jetzt, da ich Germanistik studiereund wieder Bücher aus vergangenen Zeiten suche, wollte ich von meinen deutschen Freunden wissen, welche alte Literatur sie immer noch schätzen. »Lenz«, sagte einer, »von Georg Büchner«, und holte aus seinem Regal ein schönes, altes Taschenbuch hervor: Dichtungen, erschienen im »Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig«, 1979.
Auf der Klappe die Handschrift von Büchner, natürlich in Frakturschrift, die ich immer noch nicht lesen kann, wenn es nicht Druckbuchstaben sind. Schöne kleine, regelmäßige Zeilen von einem 22-Jährigen. 1837 starb Georg Büchner an Typhus. Und der Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz, der Protagonist seiner Erzählung, war in Juni 1792, 41 Jahre alt, tot gefunden worden auf einer Moskauer Straße. Da fängt meine Recherche an, bei den unseligen Toten. Und ich frage mich wie ein so junger Schriftsteller vor hundertsiebzig Jahren – neunzehn Jahre vorFreuds Geburt – über Wahnsinn geschrieben hat.
Büchners Oeuvre: drei Theaterstücke, den Prosatext Lenz, die Flugschrift Der Hessische Landbote (mit Ludwig Weidig) und zwei wissenschaftliche, anatomische Texte. Die Sekundärliteratur: mindestes das Hundertfache, wahrscheinlich noch viel mehr. Ein entmutigend großer Haufen. Aber ich nehme mich zusammen: ich brauche Büchners Text da doch nicht mal erst auszubuddeln. Er liegt schon vor mir.
»Den 20. Janner ging Lenz durchs Gebirg.«
Sechs Sätze weiter treffe ich auf etwas Widersinniges: »…nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehen konnte.« Und dann fängt das »Drängen« in ihm an, das immer wieder zurückkommen wird. Sätze fangen an mit: »Es war ihm alles so…« (»klein«, »nahe«, »naß«). Die Verfremdung ist da, Zeit und Raum fangen an, aus dem Ruder zu laufen, dieso eindringlich beschriebene Natur schlägt nach innen, wild und überwältigend: »er wühlte sich in das All hinein«. Und: »es war eine Lust, die ihm wehe tat«. Die gegensätzlichen Gefühle treffen sich, und dort fängt es immer an, psychologisch interessant zu werden. Dann wird es ruhiger und still, und es wurde ihm »entsetzlich einsam« […]. »Es faßte ihn eine namenlose Angst in diesem Nichts: er war im Leeren!«Vier Abschnitte habe ich erst gelesen und Lenzens Wahnsinn ist schon unheimlich nah oder die Psychose (ein Begriff, den ich hier bevorzuge, weil er keinen Dauerzustand bedeutet, nicht etwas, dass eine Person für immer befällt). Im Ansatz ist die Psychose schon völlig da: das verrücktmachende Hin und Her zwischen Sehnsucht, Lust, Schönheit, Liebe, das Göttliche, das Gute, Trieb, Manie, (Bedeutung, Bedeutung, Bedeutung alles ist schwanger von Bedeutung) und Finsternis, Einsamkeit, das Unerträgliche, die Verlorenheit, Angst, Leere, das Unnennbare, das Nichts (die psychische oder seelische Sackgasse). Büchner benutzt die Sprache sehr direkt: je verwirrter Lenz ist, umso brüchiger wird die Sprache. Büchner zeigt die Psychose statt sie zu erzählen. Deswegen kann ich auch kaum der Versuchung widerstehen, ihn ständig zu zitieren.
der Alp des Wahnsinns
Sie ist mir gleich vertraut, die Welt, in der Lenz lebt. Viele Geschichte kommen hoch, Krankengeschichte aus der psychologischen Fachliteratur, aber auch Geschichten, die Menschen mit Psychosen mir in Interviews erzählt haben, Menschen, die es selbst erleben mussten, Menschen, die es miterleben mussten (Partner, Familie, Freunden), Menschen, die es zu heilen versuchten.(1) Als ich Büchners Erzählung einmal durchgelesen hatte, wunderte ich mich, dass er den Wahnsinn so genau beschrieb, nämlich genau so, wie er uns jetzt noch erscheint. Man könnte sich darüber weiterhin auch noch darüber wundern, dass die Form der Wahnsinn damals so ähnlich war wie heute.
Zurück zu Lenz. Bei der Pfarrersfamilie Oberlin in Waldbach geht es Lenz anfangs besser, aber nie verschwindet die Bedrohung völlig. Zweimal verliert Lenz sich noch in seinen Ängsten, »kam ihm die Angst an wie Kindern, die im Dunkeln schlafen; es war ihm, als sei er blind. »Jetzt wuchs sie, der Alp des Wahnsinns setzte sich zu seinen Füßen: der rettungslose Gedanke, als sei alles nur sein Traum, öffnete sich vor ihm« und er stürzt sich nachts in den seichten Brunnen (als ob eine Stimme ihm dazu beauftragt habe). Weiter schläft er schlecht – ein Symptom und ein Motor der Psychose. Auch Oberlins Geschichten über Begegnungen mit Gott und über Geister versprechen nichts Gutes, solche Wörter sind – auch heute noch – gute Anzünder einer Psychose.
Aber trotzdem, die Sätze werden ausgeglichener, es handelt sich jetzt um: zu sich kommen, Ruhe, Wohltätigkeit, Heimlichkeit. Oberlin und seine Arbeit als Pfarrer bringen Lenz mehr ins Gleichgewicht, es geht ihm so gut, dass er eines Sonntags sogar predigen darf, es war, »als löse sich alles in eine harmonische Welt auf«, »sein ganzer Schmerz« war ruhig in seinem Herzen und da war auch »ein süßes Gefühl unendlichen Wohls«. Diese letzten Zeilen sind schon wieder Vorboten des nächsten Unheils, die Harmonie- und Wonnegefühle steigern und steigern bis sie nur noch umkippen können.
die Glut des Lebens angegriffen
Als ein Freund Lenzens Vater zur Besuch kommt, fühlt Lenz sich sehr verunsichert, in seinem zerbrechlichen Gleichgewicht bedroht. Das Gespräch über Kunst, das die beiden führen, der Streit zwischen Idealismus und Realismus, ist von der Form her ein Fremdkörper im Text, es ist auch die einzige Passage, wo Büchner für Lenz die erste Person Singular benutzt ohne Anführungszeichen. (2) Weiter kommt das Ich nur manchmal vor in kurzen agitierten Sätzen. Inhaltlich passt das Kunstgespräch ganz gut. Es macht klar, dass dieses Thema Lenz' Existenz berührt, dass es für ihn fast wie ein Kampf zwischen Leben und Tod ist. Er hat keine Distanz. Krankhaft kann man das an sich wohl noch nicht nennen, es sind jugendliche Schärfe, revolutionäre Geist, Aufstand gegen die Väter – diese eignen sich aber sehr gut als Instrumente einer Psychose. Das Kunstgespräch, so lese ich übrigens später an verschiedenen Stellen in dem sekundären Haufen, kommt nicht, wie das meiste Material, aus Vorlagen des Dichters Lenz, sondern damit vertritt Büchner seinen eigenen Standpunkt.
Der Freund des Vaters sagt schließlich, dass Lenz nach Hause zurückkehren soll, woraufhin dieser ausrastet – seine Wörter sind hier wie ausgespukt –, weil er schon den Gedanke an die Heimkehr nicht erträgt. Warum sie ihm so erschüttert, erzählt Büchner nicht.
Dass er überhaupt nichts über Lenzens Leben erzählt, außer dass er Dramatiker ist (diese Tatsache braucht er als Anlass für das Kunstgespräch), weist vielleicht daraufhin, dass Büchner vor hatte mit Lenz eine kurze Phänomenologie des Wahnsinns zu schreiben, als Anfang, als eine Art Etüde. Man könnte sehr wohl behaupten, dass Büchner mit den Gedanken gespielt hat, es noch weiter zu verfolgen und eine Anatomie des Wahnsinns zu schreiben. Jedenfalls war er auchin seinen Theaterstücken schon interessiert an skurrilen Protagonisten, an Außenseitern. (3)
Und dann verreist Pfarrer Oberlin und lässt Lenz bei seiner Frau zurück. Lenz treibt es in die Berge, er verirrt sich und landet bei einer Hütte. Dort begegnet er einem eigenartigen Mädchen, das ihm tief beeindruckt, und einem Mann, von dem die Leute später sagen, dass er Geister beschwören könne. In dieser Hütte schläft er überraschenderweise tief und gut.
Als er am nächsten Tag nach Waldbach zurückkehrt, schwillt das Chaos wieder in ihm an, er ist Spielball seiner tiefen Eindrücke, seiner Träumen und seiner Angst und Einsamkeit. Er ist nur noch mit dem Mädchen befasst, nur bei ihr könne er es noch aushalten. Er verstrickt sichimmer mehr in seine religiösen Quälereien und kämpft gegen die Kälte, die Leere, den Tod. Er müsse die Glut des Lebens gegen Angriffe schützen, er fastet und er meint, dass er ein Zeichen von Gott brauche.
Wahnsinn und Langeweile
Wenn eine Psychose sich steigert, tauchen die außergewöhnlich große Liebe und der Allmächtige oder das Gute und das Böse fast immer auf. Es sind oft Endzeitmetaphern, die mitschwingen: der entscheidende Moment ist fast da: Himmel oder Hölle.
Als Lenz hört, dass in Fouday ein Kind namens Friederike gestorben ist, springt sein Beziehungswahn wie eine Knospe auf und vermischt sich mit messianischen Rettungsfantasien. Angezogen wie ein Büßender geht er hin, um das Kind vom Tode zu erwecken. Er gibt sich völlig hin, aber die Magie scheitert: Gott taucht nicht auf und seine eigene verzweifelte Worte »Stehe auf und wandle!« materialisieren nicht.
Er ist verloren. Er geht ins finstere Gebirge hinaus. Er spürt die Macht der Destruktion, als könne er Himmel und Erde vernichten. »In seiner Brust ist ein Triumphgesang der Hölle.« Die schöne, göttliche Natur ist ihm plötzlich lächerlich, und er wird von Atheismus befallen. Plötzlich ist er unerschütterlich und will nur noch zu Bett. Er geht nach Hause. Er ist wieder von einem Extrem ins andere gefallen, ein Spielball seiner ungeheuren innerlichen Kräfte.
Am nächsten Tag wird er gequält von seiner gestrigen Verfluchung Gottes. Und dann kehrt Oberlin zurück, Lenz ist entsetzt, obwohl der Pfarrer seine Vertrauensperson ist. Jetzt wird aber das Urteil über ihn gefällt werden. Er hat gesündigt und glaubt, er sei verloren. Er liebte das Mädchen, sie liebte ihn, er wirft sich selbst Eifersucht vor, »o gute Mutter, auch die liebte mich – ich bin euer Mörder!« Oberlin redet und redet und Lenz wird ruhiger. Er will, das Oberlin ihn züchtige mit einem Bündel Gerten. Auch das taucht bei Psychosen oft auf: der Betroffene denkt sich eine Strafe aus, er müsse büßen für seine Sünden. Oberlin verweigert und gibt ihm stattdessen einige Küsse.
Nachts befällt Lenz der Wahnsinn wieder. Er schreit »Friederike«, er springt in den Brunnen, er winselt mit unmenschlicher Stimme. Am nächsten Tag findet Oberlin ihn in Bett, bedrückt von Langeweile: »…ich mag mich nicht einmal umbringen – es ist zu langweilig!« Under »huscht« aus seinem Bett raus und zurück – etwas was wohl kaum zu Langeweile passt. Da taucht also wieder ein schärferer Riss auf in seiner gelangweilten Stimmung. Mittags hat der Riss sich materialisiert: Lenz hat seinen Arm verrenkt, er sei aus dem Fenster gesprungen. In Lebensgefahr hat er sich damit nicht gebracht, aber Oberlin entscheidet, dass Lenz weg muss, mit seinem Glauben und seiner Güte kann er ihm nicht mehr helfen.
Bis dahin will Oberlin Lenz nicht mehr allein lassen und er besorgt ihm zwei Aufseher. Sie besuchen zusammen das Grab des Kindes in Fouday, Lenz ist verwirrt und verzweifelt. Dann entwischt er seinen Aufseher. Später wird er gefesselt in einem Haus gefunden, darum hat er die Leute selber gebeten, da er ein Mörder sei. Zurück in Waldbach betet er nur noch und redet verwirrt über einen Engel, der gestorben sei. Und wenn der Pfarrer fragt, woher er das wisse, wiederholt er nur: »Hieroglyphen!«
"So lebte er hin…"
Dann beschreibt der Erzähler, wie eine Schlussfolgerung, mit mehr Distanz als zuvor, wie es Lenz weiter geht. »…er hatte keinen Haß, keine Liebe, keine Hoffnung – eine schreckliche Leere, und doch eine folternde Unruhe, sie auszufüllen. Er hatte nichts. Was er tat, tat er nicht mit Bewußtsein, und doch zwang ihn ein innerlicher Instinkt«. Seine Einsamkeit war grausam. Wenn er was tut, ist er es nicht selbst, es ist ein »mächtiger Erhaltungstrieb«. Er hatte immer öfter Anfälle. »Es war ihm dann, als existiere er allein, als bestünde die Welt nur in seiner Einbildung, als sei nichts als er; er sei das ewige Verdammte, der Satan […] es war die Kluft unrettbaren Wahnsinns, eines Wahnsinns durch die Ewigkeit.«
Seine halben Selbstmordversuche verübt er nicht so sehr weil er tot will, schreibt Büchner sehr klug, er will sich selbst nur durch körperlichen Schmerz befreien von seiner fürchterlichen Angst oder von seinem tödlichen Nichtsein. Oft schlägt er sich den Kopf an die Wand. Er schläft nicht mehr, er hört Stimme. Eines Abends hört Oberlin im Hof etwas schrecklich platzen. »Die Kindsmagd kam todblaß und ganz zitternd …«
Und dann folgt die einzige Leerzeile im Text, als ob Büchner hier noch nicht genau weiter wusste.
Abschließend beschreibt er auf einer dreiviertel Seite, dass Lenz in einem Wagen mit Begleiter unterwegs ist und in Straßburg eintrifft. Es ist von seltsamer Einsamkeit. »Er tat alles wie es die andern taten; es war aber eine entsetzliche Leere in ihm, er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen, sein Dasein war ihm eine notwendige Last. –
So lebte er hin…«
erst Anfang zwanzig
Im Kunstgespräch wirft Lenz den Dichtern vor, dass sie keine Ahnung von der Wirklichkeit haben. »Dieser Idealismus«, sagt er, »ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur.« Und dann deutet er die notwendige Etüde an, die Lenz für ihn selbst auch sein könnte: »Man versuche es einmal und senke sich in das Leben des geringsten und gebe es wieder in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen, feinen kaum bemerkten Mienenspiel; er hätte dergleichen versucht im ’Hofmeister' und den ’Soldaten'. Es sind die prosaischsten Menschen unter der Sonne; aber die Gefühlsader ist in fast allen Menschen gleich, nur ist die Hülle mehr oder weniger dicht, durch die sie brechen muß.« Und: »Man muß die Menschheit lieben, um in das eigentümliche Wesen jedes einzudringen; es darf einem keiner zu gering, keiner zu häßlich sein, erst dann kann man sie verstehen«.
Und das muss Georg Büchner gemacht haben: er hat Vorlagen über Lenz gelesen, er hat Krankengeschichten gelesen (z.B. über den Mörder Woyzeck (4)), er hat sich sehr konzentriert eingelebt und er hat tief in sein eignes Gemüt geschaut. Im Haufen liegen Texte, deren Autoren sich bemühen nachzuweisen, dass Büchner selbst geisteskrank war oder nah dran. Ich glaube erstens, dass das erstens nicht notwendig wäre, um so eine Erzählung schreiben zu können, wie die Autoren denken, und zweitens gibt es in seiner Biografie auch keinen Beweis dafür. Er war manchmal deprimiert, melancholisch, schwermutig. Die Umstände seines Lebens waren auch nicht einfach: die konservative, ungerechte Politik machte ihn oft »rasend«. Er musste fliehen wegen seiner revolutionären Stellungnahme, er glaubte schon sehr jung nicht mehr, dass die Zeit für eine politische Wende da war, er fühlte sich enttäuscht und manchmal überflüssig, weil sein revolutionärer Geist sich kaum entwickeln konnte und weil er kaum was ändern konnte. Darüber hinaus musste er seinem sehr autoritären Vater gegenüber erwachsen werden und vermisste er seine innig geliebte Verlobte, die weit weg wohnte, sehr.
Aber was am meisten beachtet werden sollte, ist dass Büchner erst Anfang zwanzig war. Er hatte das Alter eines Adoleszenten, dazu passt es abwechselnd »himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt« zu sein, dazu passen heftige Gefühle, große Ambitionen und das Bedürfnis, die Welt zu ändern, dazu passt ein zwischen Optimismus und Pessimismus schwankendes Gemüt. Es ist unwissenschaftlich, das als ein Hinweis auf psychische Überempfindlichkeit zu betrachten. Und schon gar, um das als Vorankündigung einer Geisteskrankheit zu sehen. Vorankündigungen gibt es in den sozialen Wissenschaften prinzipiell nur hinterher. Und bei Georg Büchner gab es kein Hinterher.
noch kein Überall, kein Immer oder Oft
Lenz, so glauben viele, ist eine der frühen Studien über Schizophrenie. Sogar das braucht Nuancierung. Es ist eine Studie über eine psychotische Periode im Leben des Protagonisten. Es ist belegt, dass es mit dem historischen Sturm-und-Drang-Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz nicht gut ausgegangen ist, aber es ist nicht belegt, dass er schizophren war. Büchner kennzeichnet Lenz selbst in einem Brief als »einen unglücklichen Poeten«, der »halb verrückt wurde«. Es gibt viele Menschen, die einmal im Leben – oft als Jungerwachsene – eine psychotische Periode erlebt haben, ohne dass sie ihr Leben lang geisteskrank wurden. Deshalb kann man zu Büchner, aber auch zu Lenz keine definitivere Diagnose stellen.
Wenn ich im Haufen der Sekundärliteratur herumwühle, fällt mir vor allem auf, dass viele Autoren Büchner betrachten, als hätte er schon ein halbes oder ganzes Leben hinter sich. (Und teilweise gilt das auch für Lenz, der in der Erzählung auch erst 27 Jahre alt ist.) Ich habe das vor allem anhand des Geisteszustands Lenzens und Büchner skizziert, aber es gilt natürlich weitgehender.
Viele Autoren stellen Büchner dar, als ob er sich als Mensch und als Schriftsteller schon voll entwickelt hätte. Irgendwie kommt mir das ungerecht vor. Er hat nicht die Chance gehabt zu zeigen, wozu er weiter noch im Stande gewesen wäre, er hat seine Kunst- und Literaturtheorien nicht weiter entfalten können und auch seine revolutionären politischen Ansichten nicht, worüber Wissenschaftler in der zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts noch sehr ausführlich diskutiert haben. Als Junger ist Büchner hundertsiebzig Jahre lang verstummt und nur als Junger kann er noch in der Geschichte mitreden. Jeder kann sich ihm zueignen, jeder kann spekulieren, extrapolieren, weil Büchners Leben so viel weiß lässt. Er war erst vier Jahre in der Öffentlichkeit aufgetaucht, er hatte sich erst vier Jahre als Schriftsteller entwickelt. Die anderen sind alle erwachsen geworden und sie behandeln ihm dementsprechend. Georg Büchner wird noch immer seine Jugend genommen. Aus Unbedachtheit, aus Bequemlichkeit, aus Unvermögen. Er könnte auch anders, sorgfältiger, betrachtet werden, wenn man vorläufig und offen und fließend über ihn reden und schreiben würde; wenn man ihm keine feste Eigenschaften zuschreiben würde, keinen angestammten Platz in der literarischen, politischen Landschaft; wenn man keine Sätze schreiben würde wie: »Überall im Werk Büchners…« Es gibt noch kein Überall, kein Immer oder Oft im Werk Büchners; er könnte auch anders betrachtet werden, wenn man ihm nicht mit schweren Substantiven, grauen Funktionsverbgefügen und kopflastigen Theorien beschreiben würde. Erst dann würde man ihm seine ewige Jugend nicht wegnehmen.
LITERATUR
• Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.), Text + Kritik, Georg Büchner III, Verlag Bouvier, edition text + kritik, München 1981, S180-195 »’Ach die Wissenschaft, die Wissenschaft!' Bericht über die Forschungsgeschichte zu Büchners ’Lenz'«, Jan Thorn-Prikker
• Hinderer, Walter, Büchner Kommentar zum dichterischen Werk, Winkler Verlag, München, 1977, S12-26 »Biographische Anmerkungen«
• Meid, Volkert, Das Reclam Buch der Deutschen Literatur, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 2004
• Poschmann, Henri, Georg Büchner, Dichtung der Revolution und Revolution der Dichtung, Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar, 1983, S 164-178: »Der Präzedenzfall ’Lenz'«
• Thieberger, Richard, Georg Büchner Lenz, Grundlagen und Gedanken zum Verständnis erzählender Literatur, Verlag Moritz Diesterweg, Frankfurt am Main, 1985
FUßNOTEN
(1) Zum Beispiel die Erzählung »De flat« in Berichten van een naderend einde, Pauline de Bok, uitgeverij L.J. Veen, 2005, (vorher Doodsberichten, Uitgeverij Meulenhoff, 1999)
(2) Der Urtext ist verloren gegangen und es ist nicht völlig klar, wie Büchners Interpunktion war. Die Ausgabe, die ich benutze, ist identisch mit der Ausgabe vom Projekt Gutenberg DE. Die Interpunktion ist so ungewöhnlich, dass es gewiss keine gestraffte Version ist.
(3) C. Ueding zitiert in Text + Kritik, S 190-191
(4) Thieberger, Richard, S. 20-21, Aus dem medizinischen Gutachten des Hofrats Dr. Clarus zum Fall Woyzec.