Literatur und Gedächtnis: Die DDR in den Werken der Generation 1970-1984
Vorwort
Das Gedächtnis ist ein fesselndes Phänomen. Als ich 1994 für mein Buch Steden zonder geheugen in der Ukraine herumreiste, um Spuren von Isaak Babels Reiterarmee und Tagebuch 1920 zu suchen, wurde mir klar, dass die Vergangenheit lange Spuren in die Gegenwart zieht, und dass man auch dort, wo die Orte auf den ersten Blick ohne Gedächtnis sind, immer wieder auf Spuren stößt, wenn man nur alle Sinne dafür öffnet. Und wenn man lauscht, was die Menschen erzählen.
So gut und so schlecht es geht, leben sie mit ihren Verletzungen und Traumata weiter, mit der Unterdrückung und dem Schmerz des Verlusts. Dazu vergessen, verdrängen, entstellen sie Vergangenes und kreieren im Lauf der Zeit eine Lebensgeschichte und eine Weltanschauung, in denen ihre Erlebnisse einen Platz bekommen, sodass sie mit ihnen weiterleben können. Das Gedächtnis als Überlebensstrategie.
Auch in meinem Buch Blankow of het verlangen naar Heimat spielte das Gedächtnis die Hauptrolle, als ich herausfinden wollte, was das mecklenburgische Vorwerk Blankow in fast zweihundert Jahren erlebt hat. Wie unheilvolle Geschehnisse über mehrere Generationen nachwirken, wurde mir abermals vor Augen geführt und auch, dass das Dasein ungehört zerfließt – um mit den Worten von Theodor Adorno zu sprechen –, wenn man sich nicht damit auseinandersetzt und wenn man das kollektive Gedächtnis vernachlässigt.
Im Landeshauptarchiv in Schwerin musste die Archivarin zu ihrem Bedauern gestehen, dass es im Speichergedächtnis Mecklenburg-Vorpommerns viel historisches Material nicht gibt, weil es das Chaos des Zweiten Weltkriegs und den politischen Reißwolf nicht überstanden hat. Was es wohl noch gibt, ist überdies oft unauffindbar, weil die Erschließung, mit der erst vor kurzem angefangen wurde, noch Jahre in Anspruch nehmen wird. Es ist ein Speichergedächtnis ohne Schlüssel.
Die ältesten Zeitzeugen, die es zu diesem Zeitpunkt noch gab, waren im Zweiten Weltkrieg noch Kinder, meist Flüchtlingskinder. Sie sind zur Zeit des Nationalsozialismus geboren worden und aufgewachsen und gehörten später zur Aufbaugeneration der DDR. Ihre Kindheitserinnerungen sind verzwickt und größtenteils tabuisiert. In Blankow habe ich versucht herauszufinden, wie sie sich ihre Erinnerungen geformt haben, wie sie mit ihrer Vergangenheit leben, welche Bilder sie in ihrem Gedächtnis geschaffen haben, womit sie leben können und worauf sie deswegen beharren.
›Stimmen die Geschichten über Blankow nicht überein? Das wunderte Renate Grensling. Was sie mir erzählt hat, ist hundertprozentig wahr, versicherte sie mir. Ich möchte es gerne glauben. Dann gäbe es eine einzige Wahrheit, eine abgeschlossene Geschichte, dann gäbe es einen Anfang und ein Ende, Ursache und Wirkung. Dann wäre das Leben übersichtlich und gäbe es eine Wirklichkeit an sich, die wir zur Kenntnis nehmen könnten, wir alle dieselbe. Aber die gibt es nicht. Wir sind unseren eigenen Erinnerungen und Bildern ausgeliefert, jeder für sich. Allein.
Die Bewohner Blankows verstehen selbst kaum noch, wie ihr Leben früher war – Hitler, Stalin, Ulbricht, Honecker, Kohl und seine Nachfolger, es ist kaum zufassen, dass es alles in ein einziges Leben passt. Die Zeiten haben sich so geändert.‹ (Blankow S. 273)
Sie sind die Großeltern der Generation 1970–1984, die den Fokus dieser Arbeit bildet. Als es 1989 im Osten über Nacht wieder ein Staatssystem zu verleumden gab, wurde das vierte Mal in ihrem Jahrhundert alles aufs Neue auf den Kopf gestellt, wieder wurden sie aufgefordert sich politisch umzuwenden, um das ehemalig Bevorzugte und Gelobte – jedenfalls in der Öffentlichkeit zu verdammen und zu verspotten. Ihre Kinder, die Eltern der Generation 1970–1984, die in einer Mangelwirtschaft und einer Diktatur aufgewachsen und ausgebildet worden sind, gearbeitet und eine Familie gegründet haben, standen oft mit leeren Händen da, als zweitrangige Bürger der Bundesrepublik Deutschland. Ihre Kinder wiederum, die letzten DDR-Schulkinder, treten als erste Nachkriegsgeneration der Deutschen – Gesamtdeutschen – über die Schwelle zu ihrem Erwachsensein in eine gemeinsame Zukunft. Sie sind die Generation auf der Kippe. Mich interessiert, wie Autoren, die ein Land, ein Staatssystem, eine Diktatur, nur als Kind miterlebt haben, die an eigenen Erinnerungen nur Kinderbilder im Kopf haben, das verschwundene Land ihrer Jugend in ihren Texten verarbeiten. Auf ihren Schultern liegt eine besondere Aufgabe: Sie werden die letzten Zeitzeugen der DDR sein und deswegen werden sie in der Formung des kollektiven Gedächtnisses eine bedeutende Rolle spielen.
Bei meiner Arbeit fiel mir ständig der Titel eines Gemäldes von A.R. Penck (Dresden,1939) ein: ›Alle Probleme der Vergangenheit werden in der Zukunft gelöst werden müssen.‹
Einleitung
Die Frage, wie die DDR in der Literatur im breitesten Sinne erinnert oder literarisch verarbeitet wird und was das für das kollektive Gedächtnis bedeutet, unterliegt dieser Arbeit. Sie ist in einer Hypothese ausgearbeitet worden, die lautet: Die Generation von Autoren, die die DDR nur als Schulkinder miterlebt haben – die Jahrgänge 1970 bis 1984 – setzen sich verhältnismä üig jung mit ihrer Vergangenheit auseinander, schaffen bisher überwiegend Werke, in denen die DDR ironisiert und verharmlost wird und tragen so zu einer Verzerrung der DDR im kollektiven Gedächtnis bei.
Wie es in den Kulturwissenschaften üblich ist, hat diese Arbeit einen interdisziplinären Charakter. Im ersten Kapitel werden einige gedächtnistheoretische Begriffe bestimmt, vor allem insofern sie von Interesse für die Erinnerungskulturen der Neuzeit sind. Der Unterschied zwischenFunktions- und Speichergedächtnis, entwickelt von Aleida Assmann, ist hier von zentraler Bedeutung. Er erweist sich als erhellend bezüglich des komplizierten Verhältnisses zwischen der ehemaligen DDR und der ehemaligen und jetzigen BRD.
Im zweiten Kapitel wird auf die DDR-Kohorte 1970–1984, die letzten Schulkinder der DDR, eingegangen. Die Frage ist, ob sie in sozialwissenschaftlichem Sinne eine Generation bildet. Die derzeitige Generationsforschung der ehemaligen DDR und Ostdeutschlands von Thomas Ahbe und Rainer Gries bekräftigt dies. Die Merkmale und das Verhältnis zu vorhergegangenen Generationen werden kurz erläutert. Wie sehr die Wende speziell für diese Kinder das Schlüsselereignis war, wird hier gezeigt. Auch werden einige Autoren selbst zu Wort kommen, insofern sie sich in ihren Werken über ihre Generation geäußert haben.Die Vorstellung der Autoren und der ausgewählten Werke findet in Kapitel 3 mittels eines Umrisses der Auswahl statt. Anschließend wird die erste Differenzierung der Auswahl bezüglich der Art und Weise, wie die DDR-Kindheit und/oder die Wendejahre in den Werken eine Rolle spielen, vorgenommen.
Im Triumphzug des Autobiografischen, dem vierten Kapitel, wird mithilfe der Gattungsbezeichnungen, der Intentionen der Autoren und der narrativen Strategien der Erzählperspektiven analysiert, wie die Erinnerungen an die DDR in den vorliegenden Werken verarbeitet werden. Vorherrschend, so ergibt sich, sind dokumentarische Erzählungen und Kurzgeschichten mit einem autobiografischen Charakter.
Eine nähere Betrachtung der Erinnerungsinhalte der vorliegenden Werke folgt im fünften Kapitel. Reflexionen über Erinnerung und Gedächtnis gibt es in den Werken kaum. Ganz normale Kindheits- und Jugenderinnerungen überwiegen, nur wimmeln sie von DDR-Details. Der Westen ist als Materialität (Waren) und Kultur (Fernsehen) allgegenwärtig, jedenfalls zu Hause. Die Erinnerungen sind überwiegend leicht und lustig, allem Anschein nach war es mit der DDR für diese Generation Autoren vorbei, bevor es ernst werden konnte. Als narrative Strategie funktioniert in vielen Werken der Habitus des Schelms, dessen Kontext und Bedeutung hier geschildert wird. Zum Schluss lasse ich die Rezeption der Werke Revue passieren. Vor allem Zonenkinder von Jana Hensel hat heftige Debatten ausgelöst, die nicht zuletzt von Generationsgenossen angeführt wurden. Die Kritik, so wird hier behauptet, gilt im Großen und Ganzen fast für jegliche Literatur der Wendekindergeneration, die oft als Pop-Literatur Ost bezeichnet wird.
Dass von Vertretern der Wendekindergeneration auch schon andere Literatur, mit einem anderen Erinnerungsverfahren geschrieben worden ist, ist Thema des Kapitels 6. Um zu zeigen, wo der Unterschied liegt, werden zwei Romane näher betrachtet: Als wir träumten von Clemens Meyer und Lagerfeuer von Julia Franck.
Zum Schluss werden im Kapitel ›Erinnerung, sprich‹ die Ergebnisse dieser Arbeit zusammengefasst, um zu erörtern, was sie gesellschaftlich beziehungsweise für die Herausbildung des Gedächtnisses bezüglich der DDR und Deutschlands bedeuten könnten.Fußnote
*Zitiert in dem Dokumentarfilm Jeder schweigt von etwas anderem von Marc Bauder und Dörte Franke, Das kleine Fernsehspiel, ZDF, 2006.
Die Bücher:
Triumphgemüse, Jochen Schmidt (2000)
Der Körper des Salamanders, Julia Schoch (2001)
Mein erstes T-Shirt, Jakob Hein (2001)
Zonenkinder, Jana Hensel (2002)
Denn wir sind anders. Die Geschichte des Felix S., Jana Simon (2002)
Meine freie deutsche Jugend, Claudia Rusch (2003)
Lagerfeuer, Julia Franck (2003)
Blühende Landschaften, Peter Richter (2004)
Wie viel Vögel, Franziska Gerstenberg (2004)
Als wir träumten, Clemens Meyer (2006)
DJ Westradio, Sascha Lange (2007)
Bachelorscriptie Faculteit der Geesteswetenschappen
Universiteit van Amsterdam
Opleiding Duitse Taal en Cultuur
Begeleiding: dr. Elke Huwiler
29 juni 2007