In Martin Walsers Novelle Ein fliehendes Pferd begegnen sich zwei Ehepaare in einem Ort am Bodensee, wo sie Urlaub machen. Die Männer Mitte vierzig sind alte Schulkameraden. Es folgen drei intensive Tage, die sie zusammen verbringen und die ihr Leben auf den Kopf stellen.
Ein Porträt des Ich-Erzählers Helmut Halm.
Inkognito ist er am liebsten, der Lehrer Helmut Halm aus Stuttgart, für andere unerreichbar zu sein, ist sein Traum. Es geht ihm am besten, wenn er im Schein lebt, wenn innerlich in ihm etwas ganz anderes vorgeht, als sein ?”u?”Yerliches zeigt. Das macht ihm Spa?”Y. Sich freundlich benehmen, zum Beispiel, obwohl er sich überhaupt nicht als ein freundlicher Mensch betrachtet. Die anderen täuschen, heimlich bösartig sein, negativ, darüber freut er sich. Seine Frau Sabine ist der einzige Mensch, dessen Gesellschaft er erträgt, der ihn interessiert und den er nahe an sich herankommen lässt. Das Schönste ist, wenn sie beide, ohne was zu sagen, ihr Dasein in gleicher Weise empfinden. Wortkarg sein, das mag er auch.
In der Novelle befindet sich der Leser in der Gedankenwelt von Helmut Halm. Er ist ein Miesmacher, ein Misanthrop, ein Selbsthasser – denkt man am Anfang -, aber diese Prädikate sind nicht geeignet, um ihn und seine in ihrer Sensibilität faszinierende Innenwelt zu kennzeichnen, dazu sind sie viel zu grob. Helmut Halm ist ein bisschen seltsam und rührend in seiner Unerbittlichkeit, er schont sich selber nicht. Oder ist auch das nur Schein und ein krampfartiger Versuch, dem Leben gewachsen zu sein?
Er möchte am liebsten, dass nichts passiert, er mag keine ?”nderungen. Seit elf Jahren macht er mit Sabine und dem Spaniel Otto jedes Jahr vier Wochen Urlaub in der gleichen Ferienwohung. Sie lesen und lesen, sie liegen am Strand, sie trinken Wein, sie rauchen. Und abends muss er leider mit Sabine im Ort auf einer Terrasse die anderen Urlauber besehen. Das ist ihm schon fast zu viel. Er braucht keine äu?”Yerlichen Regungen, sein Innenleben ist ihm genug. Helmut Halm lebt langsam und ist einAu?”Yenseiter, er lässt sich nicht gerne mitrei?”Yen. Er ist ein Beobachter von den kleinsten Regungen und Details. Er beobachtet seine Empfindungen. Er ist fast zum Stillstand gekommen.
Und dann taucht Klaus Buch auf mit seiner jungen, zweiten Frau. Helmut Halm (»Ha-Ha«) erinnert sich anfangs kaum an ihn, aber Klaus drängt sich rasend in sein Leben. Er ist in allem sein Gegenteil. Er erinnert sich vieler Jugendereignisse mit peinlichst genauen Details, die er gleich in modischen, psychologischen Mustern zu erklären wei?”Y. Helmut Halm spürt ganz kurz einen brennenden Neid, weil er selbst sich kaum an etwas erinnert. Er muss sich richtig anstrengen, um wie gewöhnlich Au?”Yenseiter, Beobachter zu bleiben, um sich emotional herauszuhalten. Er hält sich vor, dass er den Versuch, die Vergangenheit lebendig zu machen, doch immer als Pseudoanschaulichkeit betrachtet hat. Er will sich jetzt von dem Sturm Klaus Buch, von dessen Benennungszwang nicht mitrei?”Yen lassen, es geht ihn doch alles nichts an. Aber seinem Jugendfreund und Spiegelbild Auge in Auge gegenüberstehend betrachtet er sich und seinem Leben mal wieder aufs Neue. Mittlerweile schielt er nach Klaus’ Frau Helene oder »Hel« und sieht wie Sabine von seinem energischen und zuwendungsbedürftigen Jugendfreund, dem Schönmacher, dem Selbstentblößer, der redet wie ein Wasserfall, fasziniert ist. Sie will plötzlich aus dem Trott ihres Lebens heraus. Und er weiß: Sabine ist seine Achillesferse.
Helmut Halm schafft es sogar eine Weile, nicht mehr zu ihr hinüberzukommen, ihm kommt gleich die Rolle in den Sinn, die Sexualität in der Gesellschaft spielt, das widert ihn an, er fühlt sich wie am Pranger. Er will davor fliehen. Abermals wird er sich scharf bewusst, dass »blutige Trägheit« seine Lieblingsstimmung ist, »schwer und schwitzend und blaß.« Das Leben fällt ihm am leichtesten, wenn er allein ist.
Klaus Buch weiß er nicht zu entkommen. Er muss sich mit seinem Ekel abfinden. Nur wenn Klaus ein fliehendes Pferd bändigt eine Heldentat spürt Helmut Halm etwas von Bewunderung. Am dritten Tag ist er dann mit Klaus Buch allein auf dessen Segelboot geraten. Es gibt keinen Wind und Klaus Buch stürzt sich auf Helmuts Leben, er soll es ändern, sich von Sabine scheiden lassen, mit ihm und Hel auf die Bahamas fahren, dann würden sie beide gerettet sein, es wäre noch nicht zu spät.
Als plötzlich ein Sturm aufkommt, lebt Klaus Buch auf, er tut sich groß und provoziert die Gefahr. Helmut Halm ist von der Angst befallen, das Boot kentere, und im Bruchteil einer Sekunde stößt er Klaus Buch mit seinem Fuß die Pinne aus der Hand. Klaus geht über Bord und verschwindet in den Wellen. Und dann heult Helmut Halm auf, aus dem gleichen Gefühl heraus wie in den letzten Monaten, in den er noch mit Sabine geschlafen hat: das Gefühl vernichtet zu sein. Er hat sich zum Ufer treiben lassen. Ein fliehendes Pferd lasse nicht mit sich reden, hat Klaus Buch gesagt.
In dieser Passage und im letzten Kapitel entfaltet sich die paradoxe Innenwelt von Helmut Halm völlig. In dem Bruchteil einer Sekunde war es ihm denn doch mal wieder passiert, dass er sich verloren hatte, dass er unmittelbar gelebt hatte und in dieser Sekunde hatte er die Bedrohung »Klaus Buch« von sich gestoßen. Dessen Ertrinken hatte er aber nicht gewollt. »du hast eben gelebt in diesem Augenblick, du bist aus dir herausgegangen, Ha-Ha, eine Sekunde lang hast du den Schein nicht geschafft, an dieser Sekunde klebst du jetzt, wirst du kleben, wenn sich der Riß dieser Sekunde nicht mehr schließen läßt.« (S. 129)
Darauf kriecht Klaus Buch in ihn, oder es wird etwas Klaus-Buchartiges in ihm freigelegt: er hat plötzlich das Bedürfnis, sich zu bewegen. Am nächsten Tag kaufen Sabine und er Fahrräder und Sportanzüge, er redet sogar anders mit Buch’schem Idiom. Als Helene zu Besuch kommt und zum erstenmal seit Jahren trinkt und raucht, macht er nicht mit. Er ist nahe daran zu erzählen was genau passiert ist, aber erst muss Helene ihre enthüllende Geschichte über Klaus Buch loswerden. Und dann tritt Klaus Buch in die Wohnung um Helene abzuholen. Er ignoriert Helmut und der realisiert, dass derjenige, der ihn auf dem Segelboot am tiefsten durchschaut hat, lebt. Er will so schnell wie möglich davon. Sabine und er brechen ihren Urlaubsaufenthalt ab. Ein fliehendes Pferd, das ist Klaus Buch und das ist er, Helmut Halm.
Ein fliehendes Pferd, Martin Walser, Suhrkampf Verlag, Frankfurt am Main, 1978, ISBN 3-518-37100-