Filme über die DDR-Vergangenheit haben seit der Komödie Sonnenallee viele Deutsche beschäftigt und zu vielen heftigen Debatten geführt. War es so wie im Film, oder eher nicht? Wie viel Nostalgie gestattet man sich und wie viel Geschichtsklitterung? Geht das, ein reiner Unterhaltungsfilm über die DDR oder spielt Geschichtsaufarbeitung immer unvermeidlich mit? Auch heute lodern die Debatten wieder auf. Der Anlass: der Stasi-Spielfilm Das Leben der Anderen. Im Schatten dieses Kassenmagnets taucht ein anderer Film über die Stasi auf, ein Dokumentarfilm, Jeder schweigt von etwas anderem, über die Fortwirkung der SED-Diktatur bis auf dem heutigen Tag.
Die Verarbeitung der DDR-Vergangenheit kommt zögernd in Gang. Auch in der Filmwelt verbreitet und vertieft das Spektrum sich. Über die letzten Jahre der DDR und die Zeit der Wende gab es die erfolgreiche Komödie Sonnenallee (1999) und die Tragikomödien Goodbye, Lenin! (2003) noch erfolgreicher und NVA (2005). Ringsum reagierte man mit Erleichterung: man könnte die Vergangenheit mit Leichtigkeit betrachten, es gäbe vieles worüber man lachen könnte. Der Spielfilm Berlin is in Germany (2001) war eine Ausnahme, er zeigte die Härte der Wende, zeigte wie Menschen unter die Räder gerieten. Aber der Protagonist war kein Held, er war ein ostdeutscher Otto Normalverbraucher, der Pech hatte.
Die Ostalgie dehnte sich aus, gleichzeitig wuchs der Widerwille. Spürte man da Schadenfreude? Wurden die DDR und ihre Bürger lächerlich gemacht? Und wurde über die Vergangenheit nicht zu viel hinweggelacht? War es wirklich alles so unschuldig?
Im ehemaligen West-Deutschland war das Publikum nach zehn, fünfzehn Jahren wohl fertig mit der DDR-Vergangenheit. Und im Osten trauten sich die ehemaligen Stasi-Offiziere sogar wieder in die Öffentlichkeit, sie protestierten dagegen, dass die DDR als Diktatur betrachtet würde und wollten eine Rehabilitierung. Gibt es denn wirklich nichts mehr zu verarbeiten? War die DDR denn nur eine Operetten-Diktatur gewesen? Langsam tritt der Umgang mit der Vergangenheit in eine neue Phase. So hat zum Beispiel die Bundesregierung Anfang 2005 der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit einen neuen Impuls gegeben: die Gründung eines Geschichtsverbandes »Aufarbeitung der SED-Diktatur« steht bevor. Und auch die Filmbranche kommt mit anderen Filmen.
Das Leben der Anderen
März 2006 markierte Das Leben der Anderen von dem westdeutschen Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck, dass die Zeit für Komödien erstmal vorbei ist. Es sei, so der Spiegel, der erste Spielfilm, der sich ernsthaft mit dem Kern der DDR auseinandersetze (1), der erste Spielfilm über die Staatssicherheit.
Der Film war schon ein Medienrummel vor seiner Weltpremiere im März 2006 und preisgekrönt auch schon: 2005 erhielt er den Bayerischen Filmpreis. Im Frühling dominierte er den Deutschen Filmpreis 2006. Und Gerüchte über einen Oscar schwirrten auch schon von Anfang an herum. Mittlerweile ist er tatsächlich nominiert.
Für eine Vorpremiere wurden die wichtigsten Männer und Frauen Deutschlands von dem Kulturstaatsminister Bernd Neumann eingeladen, der den Film lobte als einen »phantastischen Film, der sehr emotional jüngste, deutsche Geschichte darstellt«. (2) Filmkritiker jubelten: endlich keine Spreewaldgurken-, Plattenbau- und Trabi-Nostalgie mehr. Und endlich würde den Stasi-Opfern die Aufmerksamkeit gewidmet, die sie verdienten.
Das Leben der Anderen handelt von einem OV, einem »operativen Vorgang« des Ministeriums für Staatssicherheit. Stasi-Hauptmann Gerd Wiesler, oder »HGW XX/7«, soll den erfolgreichen linientreuen Dramatiker Georg Dreyman abhören. Er soll einen politischen Verdacht zusammenbasteln um ihn kaltstellen zu können, weil der Justizminister sich in Dreymans Lebensgefährtin, Christa-Maria Sieland, eine berühmte Schauspielerin, verliebt hat.
Wiesler verwanzt die Wohnung und richtet im Dachboden des Hauses eine Abhörzentrale ein. Langsam aber wird er von seinem Opfer und dessen Leben beeindruckt. Eine ihm unbekannte Welt öffnet sich. Wenn Dreyman am Klavier eine Sonate von Beethoven spielt, ist er gerührt, so wie von einem Gedicht von Bertold Brecht, das er aus Dreymans Bücherregal weggenommen hat. Letztendlich schützt er sein Opfer sogar. Als Dreyman nach dem Selbstmord eines Freundes vorhat sein Manifest über die vielen Selbstmorde in der DDR anonym im Spiegel zu veröffentlichen, verschweigt Wiesler das und holt sogar heimlich die Schreibmaschine Dreymans, den Beweis seiner Urheberschaft, aus der Wohnung weg. Aber dass die ganze Geschichte nicht gut ausgeht, kann er trotzdem nicht verhindern. Dreymans Beziehung ist untergraben. Christa-Marie, die ihrer Karriere wegen fast ohne Bedenken auf das Drängeln der Minister eingegangen ist, sieht keinen Ausweg mehr und sucht den Freitod. Wiesler wird demaskiert und degradiert. Nach der Wende liest Dreyman in seinen Stasi-Akten über die Rolle, die Wiesler in seinem Leben gespielt hat und schreibt einen Roman, Die Sonate vom Guten Menschen. Auf der ersten Seite steht: »HGW XX/7 gewidmet in Dankbarkeit«. Wenn Wiesler den Roman kauft und der Buchhändler fragt, ob er es als Geschenk verpacken soll, sagt er: »Nein. Es ist für mich.«
Jedes Detail stimmt, bewundern ehemalige DDR-Bürger, die Genauigkeit des Regisseurs. Er hat sich ausführlich von einem hohen Stasi-Offizier beraten lassen. Der Film sollte jedoch nicht dem Realismus zufallen, er sollte Donnersmarck zufolge von einem »metaphorischen Hyperrealismus« geprägt sein. (3) Das hat geklappt, der Film ist über die Realität hinausgewachsen, er ist wie ein Science-Fiction-Film aus der Vergangenheit, wie 1984 von George Orwell, ein merkwürdig altmodischer Science-Ficton. Er spielt nicht umsonst im Jahre 1984, dem ziemlich abgenutzten literarischen Symbol der Diktatur. Und dass er in der ehemaligen DDR spielt, ist ziemlich zufällig, er könnte sich überall abspielen.
Donnersmarck wollte auch keinen Film über die Stasi schlechthin machen, im Gegenteil, in der Welt (4) sagt er: »Mein Film handelt von der Fähigkeit des Menschen, sich für das Gute zu entscheiden, ganz gleich, wie weit er auf dem falschen Weg schon fortgeschritten ist.« Er handelt auch von der Katharsispotenz der Kunst.
Das Leben der Anderen ist völlig durchkomponiert. Es gibt laut François Truffaut zwei Sorten Filme, schreibt Rainer Gansera in der Süddeutschen Zeitung: »’die dem Zufall Eingang in ihre Bilder gewähren, der Sonne, Passanten und Fahrrädern (Rossellini, Huston)’ und den anderen, ‘die jeden Quadratmeter der Leinwand unter ihrer Kontrolle haben wollen (Lang, Hitchcock)’. Donnersmarck gehört zu den anderen.« Für Gansera entlockt das »Intensitäten, wie man sie selten zu sehen bekommt«, für mich macht es den Film eher zu künstlich die Schemen schimmern hindurch , und die Protagonisten und ihre Lebenswelten wirken stereotyp.
In Deutschland lodern die Debatten über den Film auf. Das Deutschland-Radio fasst es so zusammen (5): »Geschichtsaufarbeitung oder Kassenschlager? ‘Kultfilm’ oder ‘politische Ignoranz’? ‘Lebendige Geschichte’ oder ‘prophylaktische Exkulpierung wahrer Täter’?« Und in der niederländischen Zeitung de Volkskrant (6) sagt Hubertus Knabe, Historiker und Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen früher das Gefängnis der Staatssicherheit , dass Donnersmarcks Film die Geschichte zwar nicht ausnutze, aber er trage auch nicht zu einem richtigen Vorstellung des sozialistischen Staates bei. »Es handelt sich um einen Stasi-Offizier, der zur Einkehr kommt. Solche Stasi-Offiziere gab es nicht.« Vielleicht ist das zu krass, aber sicherlich ist es auch krass, und peinlich, dass im ersten ernsthaften Spielfilm über die Stasi der positive Held ein Stasi-Hauptmann ist. Hubertus Knabe beziehe, so de Volkskrant, das Unvermögen um sich auf passende Weise mit der DDR-Vergangenheit auseinanderzusetzen, auf die immer noch starke Beschäftigung mit der ersten deutschen Diktatur. »Hitler ist so allgegenwärtig, dass er die Sicht auf Ulbricht und Honecker wegnimmt.« Leid mit schlimmerem Leid vergleichen ist eine bekannte und effektive Strategie Opfern den Mund zu stopfen. Und den Kopf in den Sand zu stecken.
Viele ehemaligen DDR-Bürger sagen, trotz aller Sorgfalt und haargenauer Details des Filmes: »So war es nicht.« Zum Beispiel: »Saß ein Stasi-Offizier, der einen Operativen Vorgang leitete, selbst an der Abhöranlage und tippte Berichte? Nein. War er dabei, wenn die Wohnung des Überwachten verwanzt wurde? Sehr unwahrscheinlich. Hat es je Fälle gegeben, in denen ein MfS-Ermittler seinem Opfer zur Seite sprang und klammheimlich Beweismittel verschwinden ließ – und wenn ja, hätte dies lediglich eine Strafversetzung zur Folge gehabt? Nichts dergleichen ist überliefert, hätte der Betreffende doch mit Untersuchungsverfahren und Haft rechnen müssen.« (7) Die Liste mit Beispielen ist beliebig zu verlängern. Aber ist es ein Beurteilungskriterium, das es nicht so war? Soll es denn so gewesen sein? Nicht unbedingt. Donnersmarck selbst sagt: »Ich habe keine Pädagogik betreiben wollen. Ich habe nur schöne und spannende Unterhaltung bieten wollen.« (8)
Und das ist meiner Meinung nach denn doch eine Enttäuschung. Damit entzieht er sich nämlich der Rolle, die sein Film im Zusammenhang mit der »Vergangenheitsbewältigung« der DDR-Zeit ohnehin spielen wird. Als ob es ihn nichts angehe. Als ob es schlicht um das Leben anderer ginge.
Jeder schweigt von etwas anderem
Das dokumentarische Gegenstück Jeder schweigt von etwas anderem fängt an, wo Das Leben der Anderen aufhört. Er untersucht die Nachwirkung der SED-Diktatur und zeigt, dass die DDR noch lange nicht vorbei ist. Im Gegenteil: »Alle Probleme der Vergangenheit werden in der Zukunft gelöst werden müssen.« (9)
In ihrem Film, der September 2006 herauskam, porträtieren Marc Bauder und Dörte Franke drei Familien, die immer noch mit ihrem von dem Ministerium für Staatsicherheit geprägten Schicksal zu kämpfen haben. Anne Gollin (Neubrandenburg, 1956), Utz Rachowski (Plauen, 1954) und Matthias Storck (Roßla, 1956) und seine Frau Tine (1959) wurden alle mit Anfang zwanzig wegen beziehungsweise »Herstellung und Verbreitung von Hetzschriften« und »Herabwürdigung des Sozialismus in der Öffentlichkeit« (Gollin), »staatsfeindlicher Hetze« und Verbreitung von Hetzschriften« (Rachowski), »Landesverräterischer Agententätigkeit« und »vereiteltem Fluchtversuch« (Storck) zu mehr als zwei Jahre Haft verurteilt. Alle wurden sie Anfang der achtziger Jahre für Westdevisen in die Bundesrepublik abgeschoben. (10) »Freigekauft« hieß und heißt das im Westen. Das meist Erschütternde des Filmes ist, wie das Thema in aller Sprachlosigkeit das Leben der damaligen rebellischen Jugendlichen immer noch beherrscht únd das Leben ihrer Eltern; und sogar das Leben ihrer Kinder prägt es tagtäglich. Die Kinder gehören ohne Übertreibung zu der psychosozialen Kategorie Zweiten Generation: sie werden von ihrer Geburt bis auf heute mit dem Schicksal ihrer Eltern mitgezerrt. Hier ist die Rede von einem klassischen Familiengeheimnis. Es wird still oder betäubend geschwiegen, oder andersherum, wie bei der Familien Storck: es wird so oft darüber geredet, dass die drei Kinder von dem Thema erschöpft sind.
Zur Vergangenheit werden wollen die Geschehnisse jedoch bei keinem. Das ist das Schrecklichste von Traumata: die Vergangenheit bleibt Gegenwart, sie findet keine Vollendung. Immer wird alles ständig wiederkäut, in Gedanken, in Alpträumen, aber zu verdauen ist es nicht. Dass die Protagonisten damals, als sie verhaftet wurden, im selben Alter waren, in dem ihre Kinder jetzt sind, können sie daher selbst kaum fassen.
Die Dokumentarfilmer reden nicht mit den drei Generationen gemeinsam, sondern mit jeder Generation für sich, und dass wirkt ungeheuer stark, ungeheuer verloren auch. Nur im Gespräch mit der alten Frau Rachowski ist ihr Sohn Utz dabei, wahrscheinlich weil sie das wollte. Sie sagt: »Ich möchte die Erinnerungen nicht missen, die gehören zu meinem Leben. Und es waren die zehn schlimmste Jahre meines Lebens. Aber, ich bin auch froh, dass das Ganze jetzt so im Unterbewusstsein ist.« Für den Film hat sie die Erinnerungen wieder aufleben lassen. Übrigens gilt die Fähigkeit schlimme Erfahrungen nach eigenem Wunsch hervorzuholen únd wieder in den inneren Schrank wegzuräumen in der Traumaverarbeitung als das Höchsterreichbare.
Utz Rachowski und seine Mutter erzählen wie sie von der Stasi belästigt wurde. Der Offizier ist gleich nach der Wende nach Franken abgehauen, aber seine IMs sind geblieben. »Die lügen weiter über den Jüngsten Tag hinaus«, sagt Utz. Nach eine Weile beendet seine Mutter das Gespräch mit der Bemerkung: »So, und jetzt kommt die Erinnerung wieder ganz tief hinab bei mir.«
Sebastian, der Sohn von Anne Gollin, kann noch nicht so frei über seine Erinnerungen verfügen. Er ist den ganzen Film hindurch der anwesendste Abwesende. Seine Mutter wurde verhaftet als er einundeinhalb war. Sie hat ihm gesagt, dass sie weg müsste, aber zurückkommen würde. Das hat dann lange gedauert. Er wohnte bei seinen Großeltern, die schwer unter der Widersetzlichkeit seiner Mutter (ihrer Tochter) gelitten haben, sein Großvater war Polizist. Im Film erzählen die Großeltern, dass ihre Treue zum Staat, erst als Sebastian plötzlich weg war und sie ihn nach einer langen Suche völlig gesund auf der Quarantänestation eines Krankenhauses zurückfanden, strapaziert wurde. »Und das, hat mir dann den Rest gegeben, dann bin ich weggesackt«, sagt die Großmutter. »Die waren ja so gemein. Wir durften nur durch die Gardinen gucken, er durfte uns gar nicht sehen.« Das Gesicht ihres Mannes zuckt immer heftiger, es schließt die Augen. Erst als Anne Gollin ein halbes Jahr im Westen war, durfte sie ihren Sohn abholen. Sie erzählt, wie er mal zu ihr sagte: »Hé Mama, du bist gar nicht meine richtige Mama, du bist ja nur mein Freund.« Das, so sagt sie, »ist Tadel und Lob in einem Satz«, und es ist ihr traurig zumute. Sie sagt: »Die Kinder laufen mit unseren Sachen herum und wir können ihr eigentlich gar nicht dabei helfen die Sachen zu lösen. Wir könnten nur eins machen: uns zurückziehen und sie nicht behindern.«
Und dann, ganz am Ende des Films, sitzt Sebastian mit seiner Mutter auf einer Terrasse, das hat er ihr offenbar nicht verweigern können. Er raucht, runzelt die Stirn, verschließt sich, sagt ab und zu was, aber was, das hört man nicht. Als Zuschauer kennt man seine Biographie. Und die beiden tun einem unheimlich Leid.
Die Kinder möchten sich nicht nach der grausamen Vergangenheit ihrer Eltern umschauen, sie kämpfen für sich, versuchen aufrecht zu bleiben. Oder man könnte auch sagen, und sie wissen nicht, wie sie an das Geheimnis herankommen könnten. Die Töchter von Rachowski haben Angst ihren Vater mit ihren Fragen zu verletzen. Vor der Kamera liest Anne (1982) eins seiner Gedichten vor. Sie kennt es noch gar nicht und da liest sie plötzlich über sich: »… rührt nicht an mein Schweigen, als wolle sie trösten mich.« Sie starrt vor sich hin und sagt dann holpernd: »Ich war mir gar nicht so bewusst, dass er vielleicht auch darauf wartet, dass wir ihn fragen [Š] aber er hat es immer als trösten empfunden […] Ja. Ich denke, das hat auch mit ‘rein gespielt, beschützen, nicht wehtun. Ja…« Sie verknifft sich und weint.
Auch die ältesten zwei Kinder Storck sind emotional mitten drin, sie ringen mit dem Thema, mit dessen Paradoxen. Man spürt wie Tochter Hannah es kaum noch schafft ihre Ekel dem elterlichen Thema gegenüber zu unterdrucken. »Sie ärgern sich auch manchmal über uns«, weiß sie, »das wir auch wirklich Desinteresse zeigen und sagen: ‘Nicht schon wieder, bitte!’« Und sie sagt: »Es ist eben auch Vergangenheit, das ist halt unabänderbar und es ist halt passiert und ich finde es auch wichtig, dass die nächsten Generationen davon erfahren, aber gerade dann wenn man in den Stasi-Akten ‘rumwühlt, ich weiß nicht was das bringen soll. Dann liest man eben noch was und denkt, was wussten die alles über mich, dann fühlt man sich noch beobachteter und schlechter in dem Moment. Wem tut das im Endeffekt gut?«
Sie hat das Buch ihres Vaters gelesen und es ist ihr schwer gefallen: »Manchmal hat es mir keinen Spaß gemacht, das zu lesen, weil…, ich hatte immer meinen Vater dabei vor Augen und das war irgendwie ganz schwierig. Wenn man ein Buch liest, dann möchte man irgendwie seine Phantasie spielen lassen…« Matthias Storck sieht es so: seine Bücher haben in der Familie ein gemeinsames Wissen gebracht, aber natürlich steht vieles zwischen den Zeilen. Darüber haben seine Kinder jedoch nie mit ihm gesprochen. Er wartet ab. »Vielleicht finden sie es auch schwer vorstellbar, da die Welt, die das hervorgerufen hat und verursacht hat ja nicht mehr existiert. Für die.« Auch sein eigener Vater und er haben nach seinem Freikauf zusammen die Wörter nicht gefunden, obwohl sie beide Pfarrer waren, Männer des Wortes. Erst Ende der neunziger Jahre, als sein Vater schon sehr krank war, erfuhr Storck, dass er von der Staatssicherheit erpresst worden war und »nie den Mut gefunden hat«, es seinen Sohn zu erzählen. »Und das war das bitterste«, sagt Storck bewegt. […] »Und ja, dann ist er mir eben über diesen Problem weggestorben.«
Der Film konzentriert sich gezielt auf die menschlichen Folgen der Stasi-Opfer. In der Berliner Zeitung schreibt Jan Brachmann (11): »Die Trauma-Beobachtung dieses Films aber verharrt im rein Psychologischen. Die Frage ob unsere Gegenwart die Zeit ist, in der sich die Hoffnungen von einst erfüllt haben, wird kaum gestellt.« Ein Glück, würde ich sagen, dass würde wenig bringen, weil es die Vergangenheit ist, die sie noch leidenschaftlich beschäftigt. Dass der Film die Politik beiseite lässt, die damalige so wie die heutige, ist gerade seine Kraft. So bekommen die psychischen Folgen der SED-Diktatur, die Ladung die sie verdienen und die zu oft nicht einmal mehr Ernst genommen wird, weil die DDR, wie auch Hanna Storck sagt, heute in der Schule und sonst wo »total lustig dargestellt wird«, als »so ‘ne Art Larifari-Leben«. Die Leistung von Jeder schweigt von etwas anderem ist Franziska Heller vom Filmdienst zufolge (12) gerade, »dass hier das Erinnern und Erzählen selbst zum Problem gemacht wird.« Erinnern und Verdrängen sind ein seltsam komplexes Paar, darauf sind die Deutschen im ganzen vorigen Jahrhundert schon gestoßen. Und auch die drei »DDR-Generationen« machen das wieder unentrinnbar klar.
Die wirkliche Verarbeitung der DDR-Jahre, muss sich immer gegen die allgemeine Neigung zur Verschonung und Verharmlosung wehren. Was damals, in der Hitler-Zeit passiert ist, war doch alles viel schlimmer. Dass auch jetzt wieder eine Vergangenheitsbewältigung bevorstehe, wollen die meisten nicht wissen im Westen nicht, aber im Osten auch nicht.
Jeder schweigt von etwas anderem zeigt wie notwendig und unabwendbar eine Aufarbeitung ist. Das Ministerium für Staatssicherheit hat die Zersetzung von ganzen Familien über drei Generationen geschafft. Um 250.000 DDR-Bürger sind wie Gollin, Rachowski und die Storcks als politische Häftlinge von der SED-Diktatur betroffen worden. Dazu kommen denn noch den Eltern, Kindern, anderen Verwandten, Kollegen, Nachbarn und so weiter. Jeder hatte Angst und vielen haben geredet. Verrat, Bange, Misstrauen. Und dann gibt es noch die anderen, die ganzen Stasi-Mitarbeiter, offizielle und inoffizielle, oft auch aus dem direkten Umfeld der Betroffenen. Die Nachwirkung einer so willkürlichen und engmaschigen Spitzelgesellschaft auf seinen Bürgern ist bis heute erschütternd. Das zeigt Jeder schweigt von etwas anderem auf eine Weise so intim und beklemmend, dass er einem einen Stein aufs Herz legt.
Ein Spielfilm und ein Dokumentarfilm, beide über die Stasi, beide über Angst, allgegenwärtige Spitzelei, Verrat. Beide zeigen überzeugend, dass die DDR kein Witz war. Das Leben der Anderen hat die Aufmerksamkeit für diese jüngste Vergangenheit wieder angefackelt, aber an sich könnte man nachher die Achseln zucken und die Sache vergessen. Es sei doch alles vorbei. Aber dann tritt Jeder schweigt von etwas anderem aus dem Schatten und zeigt, dass es noch gar nicht vorbei ist. Die wirkliche Aufarbeitung der DDRVergangenheit hat noch kaum angefangen. Die Kinder von Anne, Utz, Matthias und Tine müssen sich erst von ihren Eltern loslösen, erst mit ihrem eigenen Leben, ihrer eigenen Zukunft anfangen. Die DDR-Vergangenheit wird erst später wieder auftauchen. Und auftauchen müssen. Um das zu verstehen sollte jeder, der mit Donnersmarck Film einen unterhaltsamen Abend verbracht hat, sich auch Jeder schweigt von etwas anderem ansehen.
Literaturverzeichnis
Internetquellen:
– Brachmann, Jan: Vom Gefängnis erzählen müssen das will ich nicht. Stasi-Trauma im Film: »Jeder schweigt von etwas anderem«. In: Die Berliner Zeitung, 22.09.2006
http://www.berlinonline.de/.bin/berlinerzeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2006/0922/feuilleton/0033/index.html. 17.01.2007, 06:07 PM-
– Finger, Evelyn: Die Bekehrung. In: Die Zeit, 23.3.2006 http://zeus.zeit.de/text/2006/13/Leben_der_anderen. 10.12.2006, 11:56 PM-
– Gansera, Rainer: In der Lauge der Angst. In: Sueddeutsche.de, 23.03.2006. http://www.sueddeutsche.de/kultur/artikel/603/72531.html 17.01.2007. 05:39 PM-
– Mohr, Reinhard: Stasi ohne Spreewaldgurken. In: Spiegel online 15.03.2006. http://www.spiegel.de/kultur/kino/0,1518, 406092,00.html, 10.12.2006, 11:54 PM.-
– Website Das Deutschland-Radio: http://www.dradio.kulturkurier.de/veranstaltung_njs.php?r=13&va=74562, 25.01.2007,11:36 AM.-
– Website Das Leben der Anderen: http://www.movie.de/filme/dlda, 18.01.2007, 12:04 PM-
– Website Jeder schweigt von etwas anderem: http://www.bauderfilm.de, 02.01.2007, 11:32 AM
Fußnoten
1. Reinhard Mohr: Stasi ohne Spreewaldgurken. In: Spiegel online 15.03.2006. www.spiegel.de/kultur/kino/0,1518,druck-406092,00.html, 10.12.2006, 11:54 PM.
2. Ebenda.
3. Evelyn Finger: Die Bekehrung. In: Die Zeit, 23.3.2006
http://zeus.zeit.de/text/2006/13/Leben_der_anderen. 10.12.2006, 11:56 PM
4. Reinhard Wengierek: »Die DDR war nicht witzig». In: Die Welt, 21.1.2005 [vielleicht muss es 2006 sein / PdB]. http://www.welt.de/data/2005/01/21/391021.html?prx=1, 11.12.2006, 12:01 PM
5. Das Deutschland-Radio: http://www.dradio.kulturkurier.de/veranstaltung_njs.php?r=13&va=74562, 25.01.2007.11:36 AM.
6. Sander van Walsum: Vroegere Stasi-officieren tonen geen berouw. In: de Volkskrant, 10-04-2006. (Übersetzung des Fragments: Pauline de Bok)7. Das Deutschland-Radio, ebenda.
8. Zitiert von Sander van Walsum in: Filmfestival Special, de Volkskrant, 18.01.2007. S.19.
9. So lautet der Titel eines Bildes von A.R. Penck im Kanzleramt, zitiert von Anne Gollin in Jeder schweigt von etwas anderem.
10. http://www.bauderfilm.de, 02.01.2007, 11:32 AM.
11. Jan Brachmann: Vom Gefängnis erzählen müssen das will ich nicht. Stasi-Trauma im Film: »Jeder schweigt von etwas anderem«. In: Die Berliner Zeitung, 22.09.2006. http://www.berlinonline.de/.bin/
berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2006/0922/feuilleton/0033/index.html. 17.01.2007, 06:07 PM
12. www.angelaufen.de/filme/vorwochen/die_filmstarts_vom_14_september_2006 /jeder_schweigt_von_etwas_anderem, 17.01.2007. 05:05 PM.
Universiteit van Amsterdam
Duitse taal en cultuur
Duits V – actualiteitenrubriek/ 2006-2007