Da liegt es wieder, ein längliches Hochhaus in nebligen Wiesen, von der zarten Herbstsonne beschienen. Auf diesen Anblick habe ich mich im Morgengrauen, aus dem Wendland kommend, unentwegt gefreut. Ich biege in die Zufahrtsallee ein. Es ist, als besuchte ich einen alten Ort, der schon Jahre in meinem Gedächtnis umherschweift. Ist es tatsächlich nur drei Monate her, dass ich hier zum ersten Mal war? Ist dies wirklich erst mein zweiter Besuch? Schau mal, dort kommt die kleine Kirche zartgelb hinter dem Gebäude zum Vorschein. In der Tiefe glänzt der Schweriner See und am anderen Ufer die alte Stadt, als wäre sie nur ein Phantom am Horizont. Es muss eine zielsichere Hand gewesen sein, die das Bauwerk der Nationalen Volksarmee aus großer Höhe dort hingeschmissen hat: es entzog die kleine Kirche fortan den Blicken der Bürger auf der Straße.
Schnell hinein, dort steht mir noch mehr in Aussicht. Vier Flure übereinander, der untere halb in die Erde gesunken, ein Keller mit Oberlicht. Jeder Flur sieht identisch aus: links und rechts Türen, eine nach der anderen. Hinter diesen Türen werden tagaus tagein Stasi-Akten aufgeschlagen, hier wird still gelesen und geschwärzt. Im Keller ist das Material gelagert. Und die Menschen mit den Unterlagen wandern stetig die Treppen hinauf und hinunter.
Auch das Treppenhaus mit seiner gläsernen Rückwand war mir im Gedächtnis geblieben. Es ist fast so wie draußen, hier kann man weit schauen, das Schöne sehen – aufatmen. Ich gehe hoch, den Blick zur Kirche und zum See, ich wende mich um: Blick zum kargen Inneren des Gebäudes und höher: Blick zur traumhaften Landschaft hin, und wieder zum Inneren, und schließlich noch mal zum immer weiteren Ausblick, und dann weiter zum dritten Stock, wieder Türen links und rechts.
Dahinter versetzen sich Jahr für Jahr die Angestellten in eine untergegangene, von einem dichten Spitzelgespinst durchzogene Gesellschaft und wissen, dass deren Wirkung noch lange nicht zu Ende ist. Wenn sie es nicht schon aus ihren eigenen Biografien wissen, dann haben sie es an den Besuchern gemerkt, an ihrem tiefen Schweigen oder ihrem wirren Gerede, nachdem sie im Schmutz gewühlt haben. An den leeren Augen oder den entsetzten, an den zitternden Händen, an den vorwurfsvollen Blicken zwischen Ehepaaren, Geschwistern, Kumpeln, Freunden. Sie wissen, wie verschlossen Menschen sein können, und sie schwärzen und schwärzen. Gehen in ihrem Kopf zwischen Täter und Opfer hin und her, so lange, bis sich der Unterschied manchmal verwischt. Es sind selten Heldengeschichten, die sie lesen, hier herrscht die Geschichte in ihrer heldenlosen Variante. Hier kommt Vergessenes, Verdrängtes in den Köpfen hoch, hier brechen Welten zusammen. Und die Mitarbeiter wissen es, sehen es, strengen sich an, sachlich vorzugehen, sich zu wehren gegen das Misstrauen, die Kleinlichkeit und den Verrat, die sie tagtäglich vorgeführt bekommen.
Ich sitze im Lesesaal und schaue hinaus zur Allee, die rechtwinklig von der Chaussee abbiegt und der Außenstelle zuläuft. Dort fahren die Transporter voller Stasi-Akten aus Berlin, aus Neubrandenburg, Erfurt, Dresden, Frankfurt (Oder), Suhl, Rostock, Halle, Gera, Chemnitz, Magdeburg und Leipzig über Landstraßen und Autobahnen hin und her. Der Geruch des alten Papiers, der in meine Nase dringt, bringt mich zu den Akten zurück. Mein Gott, denke ich reflexartig, es ist der Geruch der Vergänglichkeit, es wird alles zerkrümeln. Wie lange wird es noch Zeitzeugen geben? Fünfzig Jahre? Ich arbeite mich durch die Aktenstöße, ich versinke im Leben von Menschen, die ich nicht persönlich kenne, in Geschehnissen, menschlichen Biotopen, die nicht die meinen sind. Die mich trotzdem angreifen, da die Vorstellung, in so einer Welt zu leben, mich beschäftigt. Da ich wissen möchte, was das bedeutet, was das mit Menschen macht. Ich stelle mir dauernd die Betroffenen vor, Opfer ebenso wie Täter, oder auch, nachträglich – das ist mir jetzt erst klar geworden – die Angestellten der BStU. Der Mensch mag in der Lage sein, sich an fast alles zu gewöhnen, aber alles, bis auf die unmerklichste Winzigkeit, hinterlässt in ihm seine Spuren. Als ich wieder hochsehe, äsen zwei Rehe in der Wiese vor dem Gebäude – als ob die Welt heil wäre. Augentrost. Das brauchen die Menschen hier.
Von der Redaktion:
Zur Entstehung dieses Texts: Die niederländische Schriftstellerin Pauline de Bok lebt in Amsterdam und Mecklenburg. Auf Deutsch erschien 2009 unter dem Titel “Blankow oder das Verlangen nach Heimat” ihr Buch über ein mecklenburgisches Vorwerk. Zurzeit arbeitet sie an einem Roman, der im Wendland spielt und an einem erzählerischen Sachbuch über das Dorf Fürstenhagen in Mecklenburg-Vorpommern. 2011 besuchte sie den Tag der offenen Tür der Schweriner Außenstelle der Stasi-Unterlagen-Behörde. Im Gespräch erfuhr sie, dass auch sie einen sogenannten “Forschungsauftrag” stellen und damit themenbezogen in StasiUnterlagen einsehen könne. Als Gast eines Künstlerhofes im Wendland nutzte Pauline de Bok den Kontakt und die Nähe zur Schweriner Außenstelle und kam nach Görslow zur Akteneinsicht. Dort wurden Materialien zum Thema “Zwangsaussiedlung” und zu einem StasiInformanten aus dem Wendland für sie vorbereitet. Die Erkenntnisse fließen in ihre gegenwärtigen Buchprojekte ein. Der Text “Augentrost in Görslow” reflektiert ihre Eindrücke vor Ort und aus den Gesprächen mit Behördenmitarbeitern.