Ich jage und töte gelegentlich ein Tier, weide es aus, häute und verarbeite es, und in den Monaten danach essen wir es.
Alle Menschen töten, auch jene, die kein Fleisch essen. Ich schäme mich nicht dafür. Lieber möchte ich mich aus eigener Anschauung mit dem Zusammenhang von Leben und Töten beschäftigen.
Ich sei eine «Mordmaschine» mit einem «perversen Gehirn», schrieb einmal eine niederländische Kinderbuchautorin in einer Polemik gegen die Jagd über mich. Und die Literaturkritikerin bei Deutschlandfunk Kultur sah mich in einem «Machtrausch», als sie vor ein paar Jahren mein Buch «Beute» vorstellte. Ausserdem hätte ich eine «zweifelhafte Lust am Blutvergiessen» und würde am liebsten «die Arme bis zu den Ellbogen in Blut stecken». Wie bitte?
Ja, wir Menschen töten, selbst diejenigen, die nicht jagen, selbst diejenigen, die kein Fleisch essen, oder die Veganer, die Milch aus Soja trinken, für deren Herstellung Wälder abgeholzt wurden. Denn die Landwirtschaft tötet, und sei es nur, weil die lebendige Natur dafür geopfert wird.
Dass wir töten, ist unvermeidlich: Alles, was lebt, tötet anderes Leben – absichtlich, versehentlich oder auch unwissentlich. Wir können versuchen, das Töten auszublenden, aber wir können es nur im Märchen oder in der digitalen Welt auslöschen (wenn man von den CO2-Emissionen unserer Datenverarbeitung absieht).
Industrielle Tierproduktion
Als Lebewesen können wir dem Zusammenhang von Leben und Töten nicht entrinnen. Deshalb ziehe ich es vor, mir Gedanken darüber zu machen, und zwar nicht aus der Ferne, sondern indem ich als Menschentier aktiv teilhabe am Ökosystem um mich herum. Auf diese Weise versuche ich es besser zu verstehen: als Mensch und sowohl mit meinem ganzen tierähnlichen wie zugleich reflektierenden Wesen. Und das heisst auch, dass ich mich immer wieder mit dem Leid konfrontiere.
In den hitzigen Diskussionen über die Jagd wird das Töten oft mit dem Leiden vermischt. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied, und in dieser Hinsicht steht der bekannte Tierrechtler Peter Singer an meiner Seite. In einem Interview mit der niederländischen Zeitung «de Volkskrant» nannte er die Debatte über das Töten «philosophisch komplex», demgegenüber sei «die über das Leiden viel einfacher». Gegen einen «gewissenhaften Allesfresser», der einem Tier ein artgerechtes Leben gönnt und es schliesslich schmerzfrei schlachtet und verspeist, hat Singer wenig einzuwenden. Seine Angriffe richtet er lieber gegen die industrielle Tierproduktion.
Das freut mich, denn im Gegensatz zu anderen Tierrechtlern lässt er sich nicht ablenken. Die Tierindustrie fügt nicht nur Milliarden von Lebewesen unfassbares Leid zu, sie trägt auch zur Klimakrise bei und zerstört die Artenvielfalt sowie gesunde Ökosysteme. Dass Tiere in diesem Mass leiden, ist die grosse Schande, aber nicht die Tötung an sich.
Es ist niemals etwas Selbstverständliches, ein Tier zu töten, aber dass es unter allen Umständen verwerflich ist, das bestreite ich entschieden. Dass Töten nicht unbedingt gleichbedeutend mit Leiden ist, dass sogar das Gegenteil der Fall sein kann, habe ich erfahren, als ich für mein Buch «Todesberichte» (1999) in der freiwilligen Sterbebegleitung gearbeitet habe. Vielleicht ist der Vergleich unpassend, aber ein Arzt, der dem Wunsch eines unerträglich leidenden Menschen auf Sterbehilfe stattgibt, lässt diesen Unterschied genau erfassen.
Der Wolf muss fressen
Kürzlich sah ich ein Video, das mir ein Jäger geschickt hatte: Ein Wolf hatte ein Damtier gerissen und ihm den Bauch aufgebissen. Nun begann er hungrig und hastig von seiner Beute zu fressen. Dann schaute er auf, spitzte die Ohren und lief davon. Im selben Moment hob das Damtier den Kopf und versuchte sich aufzurichten. Vor Schreck schoss mir das Blut in die Adern: Es war noch am Leben!
Das Tier muss langsam verendet sein. Der Jäger und Urheber des Videos hatte dazu geschrieben: «Was für eine Tierquälerei!» Trotz den brutalen Bildern musste ich schmunzeln. Wird jetzt auch der Wolf unserer menschlichen Moral unterworfen und ausgerechnet von einem Jäger?
Der Wolf muss fressen, auch seine Welpen, und er fängt am liebsten mit den Weichteilen an, das ist am einfachsten, und dort beginnt die Verwesung. Was er tut, ist nicht grausam, nicht «unmenschlich», das Damtier stirbt – das ist sein Pech, sein Schicksal. Natürlich würde es, wenn es die Wahl hätte, lieber von der Kugel eines Jägers getötet werden als von einem Wolf. Aber das ist nicht der Punkt. Nur wir Menschentiere können uns, soweit wir wissen, in das Leben und Leiden anderer Arten einfühlen und zugleich unseren Umgang mit dem Leben um uns herum moralisch abwägen; nur Menschen können human oder inhuman handeln. Das Wort sagt alles.
Unter Menschen ist es, zumindest in der Theorie, fast selbstverständlich: Wir haben die moralische Pflicht, anderen Lebewesen so wenig Leid wie möglich zuzufügen. Wenn wir also Tiere töten, müssen wir dies möglichst schnell und schmerzlos tun.
Töten ist nicht einfach, es bleibt etwas unvorstellbar Grosses. Je älter ich werde, desto mehr schrecke ich davor zurück, eben wegen des Risikos, dass etwas schiefgehen könnte. Es ist kein virtuelles Spiel, es ist blutiger Ernst, unsere Handlungen, die wir nie in ihrer ganzen Tragweite überblicken können, haben reale Konsequenzen. Ich gehe das Risiko ein, mir die Hände schmutzig zu machen, und stelle mich dem.
Falsches Mitgefühl
Gut, wir dürfen den Tieren kein unnötiges Leid zufügen, aber das kann nicht die Grundlage für unsere Beziehung zu den Tieren sein. Es geht nicht immer und nur um Schmerz oder Leid, es geht vor allem darum, dass jedes Lebewesen so leben und leiden kann, wie es seiner Art gerecht und angemessen ist. Dieses moralische Prinzip wird durch die industrielle Tierhaltung, aber auch durch die Käfighaltung von Vögeln, die Zucht und Haltung verstümmelter Hunderassen und die Überfütterung von Haustieren zutiefst verletzt. Oder wieso sollten Katzen keine Mäuse und Vögel fressen dürfen, wenn das Problem nicht die Katze ist, sondern die grosse Zahl von Katzenhaltern?
Manchmal kollidiert dieses Grundprinzip mit unserem menschlichen Mitgefühl und dem Bedürfnis, in das Leiden einzugreifen. Selbst bei Tieren, die in Freiheit leben: Wir kümmern uns um Jungvögel, die aus dem Nest gefallen sind, retten junge Hasen, die verloren auf den Feldern liegen, oder wir streicheln, wie ich einmal einen Polizisten gesehen habe, eine tödlich verletzte Ricke, während wir darauf warten, dass der Schütze ihr den Gnadenschuss gibt – und erschrecken das Tier mit unserer tröstenden Nähe zu Tode.
Unsere guten Absichten werden oft von einer fast erdrückenden Bevormundung begleitet. Ich habe mich auch schon dabei ertappt. Als ich vor Jahren ein krankes Reh irgendwo im Gebüsch fand, das keine Anstalten machte zu fliehen, überlegte ich, ob ich nicht den Tierarzt anrufen sollte. Das geht fast instinktiv, bis ich einsah, dass ein Wildtier, auch wenn es in Not ist, mich nicht als Retter, sondern als Feind ansieht. Ist es nicht besser, es in Ruhe zu lassen? Wie handle ich zu seinem Wohl? Woher weiss ich eigentlich, dass meine Herangehensweise an sein Leiden besser ist als seine eigene Art, mit seinem Leiden umzugehen, wie es seine Artgenossen schon immer getan haben?
Ich habe gelernt, Abstand zu halten, das Leiden anzuschauen, es zu ertragen, das Tier nicht davon befreien zu wollen. Ich sage nicht, dass ich niemals das Leiden eines Tieres verkürzen werde. Ich muss nur an Wildunfälle im Strassenverkehr denken oder an die halbtoten Tiere, die sich in den Zäunen verfangen, die wir überall errichten.
Die Erde gehört nicht uns
Unsere Eingriffe haben nicht nur Folgen für einzelne Wildtiere, sondern auch für ihre Art: Wir beeinträchtigen ihre natürliche Wildheit, wir domestizieren sie langsam, ob wir wollen oder nicht. Wir untergraben ihre Eigenständigkeit, schliessen sie auf Inseln unserer Infrastruktur ein, behandeln sie sogar mit Medikamenten, machen sie verletzlicher.
Im Laufe der Jahre habe ich vor allem gelernt, dass die Erde nicht uns Menschentieren gehört. Die Komplexität, zu der wir gehören, ist atemberaubend. Wir haben nur bedingt Zugang zu anderen Lebewesen, wir sind uns kaum bewusst, was wir ihnen antun, wir können die Folgen unseres Tuns nicht vollends abschätzen. Wie alle anderen Lebewesen sind wir in unserer eigenen Wahrnehmungsblase befangen, wie der Wissenschaftsjournalist Ed Yong in seinem Buch «Die erstaunlichen Sinne der Tiere» veranschaulicht. Es gibt kein Entkommen aus den Werkzeugen, die evolutionär auf uns zugeschnitten wurden. Aber offenbar fällt es uns schwer, danach zu leben.
Ich werfe den verbissenen Tierrechtsaktivisten vor, dass sie glauben, sie könnten die moralische Ordnung definieren, innerhalb deren wir über unsere Beziehung zu Tieren und über Leben und Töten nachdenken können. In ihrem heiligen Glauben an ihre eigenen Erkenntnisse, ihr makelloses Verhalten und ihre selbsternannte Wut sind sie wider besseres Wissen blind für andere Möglichkeiten, unseren Platz in der Natur zu betrachten. Damit missverstehen sie nicht nur die Komplexität unseres Lebens als Menschentiere, sie vereiteln auch eine angemessene gesellschaftspolitische Debatte.
Pauline de Bok ist Schriftstellerin und Jägerin. Sie lebt in den Niederlanden und in Mecklenburg-Vorpommern. – Aus dem Niederländischen von rbl.