Die Jagd ist kein Sport. Sie ist aktiver Naturschutz oder sollte es sein. Und nie komme ich so nah an mein eigenes Innerstes, wie wenn ich ein Tier ausnehme.
Letzte Woche sah ich sie hier zum ersten Mal, gar am helllichten Tag. Am südlichen Waldrand vor mir, wo das Gras dünn wird, bewegte sich etwas. Mit meinem Feldstecher holte ich die Stelle näher heran: Schweine! …fünf, sechs, sieben, alle ähnlich gross. Es waren Überläuferkeiler, einjährige, männliche Tiere, die ihrer matriarchalen Obhut entronnen waren, ein Trupp von Halbstarken, die eine Spur der Zerstörung hinterlassen, bis sie sich, einmal geschlechtsreif, einzeln absondern, um ihre Kräfte für die Rauschzeit zu schonen.
Ich schätzte die Entfernung von meinem Hochsitz auf etwa 300 Meter und liess das geladene Gewehr neben mir stehen, bis sie näher kommen würden. Was sie aber nicht taten. Warum auch, warum sollten sie sich im offenen Gelände direkt in mein Schussfeld begeben? Später verlor ich sie in den Wogen des hoch aufschiessenden Grases aus den Augen. Etwa sechzig, siebzig Meter vor mir war das Gras niedriger, durcheinander, heruntergetrampelt, da hatte ein Nachbarjäger zuvor die Schweine mit Futter gelockt, hier wollte ich am folgenden Abend und auch die nächsten Tage Mais streuen. Damit sie sich darüber hermachen. Der Wind würde vorläufig von Westen her kommen, so schnell würden sie mich also nicht wittern.
Nun sitze ich bereits wieder eine ganze Weile hier und spähe über die Hügel hinweg bis zum Horizont, wo auf einem Feld der Raps blüht, etwas weiter entfernt flimmert ein See in der Sonne. Ich lasse meinen Blick hin und her schweifen, auf und ab, ich suche nach einer Bewegung, nach der kleinsten Veränderung. Rundes Gebüsch versteckt die nach der letzten Eiszeit in der Landschaft zurückgebliebenen Toteislöcher. Klein-Russland heisst dieses Jagdgebiet im Volksmund, die Hügel, Wälder und Seen scheinen sich endlos ostwärts auszubreiten. Im Winter kann es da bitterkalt sein. Nun sirren die Mücken schon um meinen Kopf, es ruft der Kuckuck, es zwitschert und tschilpt von allen Seiten.
Höre ich gerade etwas im Wäldchen hinter mir? Raschelt da ein Tier? Sachte beuge ich mich über den Rand. Ein Rehbock kommt hervor, geht über die Weide zur Kirrung hinüber und frisst vom Mais. Lass bloss etwas übrig für die Schweine, bitte ich inständig. Des Rehbocks wegen werde ich nicht zum Gewehr greifen, er wäre reif, um geschossen zu werden mit seinem schönen, stolzen Geweih, aber er ist Jägern vorbehalten, die nach Trophäen lechzen und dafür auch gerne bezahlen. Ich jage keine Trophäen, ich jage das Wild, um es zu essen.
Eine Übung im Stillsitzen
In den Baumkronen links glüht ein Fleck, als ob der Wald brennen würde. Der Mond. Schnell steigt er über das Grün hinaus, eine enorme Scheibe, die schrumpft, während sie von orange zu gelb verblasst. Zugleich geht im Buchenwald hinter mir die Sonne wie ein Feuerball unter. Es fröstelt mich, unvermittelt ist es ein paar Grad kühler – und stiller und einsamer. Aber bevor die Dunkelheit hereinbricht, wird der Mond weiss und dünn seinen höchsten Punkt am Himmel erreichen und rundherum die Landschaft fast taghell grünlich beleuchten.
Dort. Als dunkle Flecken tauchen sie zwischen den Halmen auf und verschwinden wieder. Ich sitze schon auf der Sitzbrettkante, folge ihnen mit meinem Feldstecher, ein brauner Rückenstreifen, ein spitzes Ohr, ein Kopf. Alles in meinem Körper ist sofort hellwach, ich bin gespannt wie eine Feder, greife nach dem Gewehr, richte im Fadenkreuz meines Zielfernrohrs den roten Lichtpunkt aus, der nun jede meiner Bewegungen diktiert. Ich nehme eine weisse Nachtnelke im niedrigen Gras ins Visier. Alles in Ordnung. Allmählich kommt die Rotte im Zickzack den Hügel herunter. Ich warte und spähe durch meinen Feldstecher. Nein, rufe ich plötzlich im Stillen zu mir, nein, die Schweine ziehen nach Westen, hierher solltet ihr kommen, hier liegt der Mais. Die Ansitzjagd ist nicht nur eine Übung im stundenlangen Stillsitzen und Stillsein, sie ist auch eine Schule der Gelassenheit.
Zick-, wieder wechseln sie die Richtung, -zack, nun nähern sie sich doch meinem Schussfeld. Der Rehbock ist weg, ich schaue hinter mich, nichts, ich blicke nach vorne, wo auf einmal nur mehr wogendes Grasland ist. Schweine? Wieso?
Darum ging es mir als ich Jägerin wurde,
in der Landschaft zu Hause sein,
nicht wie durch eine Kulisse spazieren,
aber Teil davon sein.
Da sind überhaupt keine Schweine. Ich halte nach Gräsern Ausschau, die sich gegenläufig zur Windrichtung bewegen, ich suche braune Flecken. Ich spähe. Dann kommt direkt vor meinen Augen der erste Überläufer auf dem niedrigen Gras, ein zweiter, ein dritter – mein Herz schlägt mir bis zum Hals, geräuschlos lege ich das Gewehr an meine Schulter, entsichere, die Rotte steht in einem Haufen, frisst von den Maiskörnern, ich atme tief durch, dann nur noch flach, flacher, warte, bis eines allein steht, ziele und ziehe den Abzug durch.
Der Schuss zerreisst die Stille, die Rotte stiebt auseinander, der Pechvogel fällt hin und zuckt noch mit seinen Läufen. Mein Körper seufzt vor Erleichterung. Lärmend schlagen die Vögel Alarm, die Böschung ist erfüllt vom Aufruhr der Flucht, die Überläufer rennen auf die Anhöhe, überall taucht Wild aus dem Weideland auf, hier ein paar Damtiere, da Ricken, ein Fuchs, und schau, der Rehbock von soeben, noch mehr Schweine, sie rennen dem Waldrand und dem Gebüsch entlang, über die Hügel, noch nie sah ich nach einem Schuss so viel Wild fliehen.
Eine moralische Grenze
Dann ist es plötzlich still, stiller als zuvor, einsamer. Ich warte noch einen Moment. Während Stunden sass ich hier auf der Lauer, und die ganze Zeit war das Wild in meiner Nähe, unsichtbar im hohen Gras, verborgen hinter einem Hügel oder einem Gebüsch. Und vermutlich schauten sie auch zurück.
Darum ging es mir, als ich Jägerin wurde, in der Landschaft zu Hause sein, nicht wie durch eine Kulisse spazieren, aber Teil davon sein, bei Wind und Wetter, zu nachtschlafender Zeit, als Tier unter Tieren, das Jagdgebiet als mein Biotop.
Ich lobe noch immer den Tag, als ich auf die Geschichte einer Jägerin stiess und wusste: darüber schreibe ich einen Roman. Dann musste ich aber auch am eigenen Leib spüren, was das Jagen mit einem Menschen macht. Und hier stand ich also, das zerbrochene Gewehr aus meiner Jugend noch immer lebensgross in Erinnerung, vor einer moralischen Grenze, die ich nie, nie hatte übertreten wollen – und nun sollte ich also darüber hinweg, sollte meine Hände schmutzig machen, mich selbst ins Ungewisse begeben. Ich besuchte einen Jagdkurs und setzte mir die Pistole vor die Brust.
Es fühlte sich wie eine Befreiung an. An dem Tag, als ich mein erstes Tier schoss, hatte ich mich in den Augen vieler mein Image als Freundin der Tiere zuschanden geschossen, ich nahm es in Kauf. Vor mir lag ein weites Feld, das ich erkunden konnte. Und ein Auftrag: als Jägerin Genaueres über das Wohl der Tiere und den Schutz der Natur zu lernen.
Ein Jäger will Beute machen, darum denkt er sich in das Tier hinein, es wird ihm zur zweiten Natur. Es interessiert ihn nicht das individuelle Tier, ihm geht es um die Art und um das stets schwankende Gleichgewicht zwischen den Arten. Sobald eine Art in ihrem Lebensgebiet bedroht ist – das trifft gegenwärtig vor allem auf das Niederwild zu, etwa Rebhuhn, Fasan oder Hase –, wird es nicht mehr bejagt. Jäger brauchen gesunde Populationen.
Tierfreundlicheres Fleisch als Wild ist kaum denkbar. Das Wild lebt, wie es seine Art ist. «Es hat ein langes und freies Leben geführt», wird oft zur Verteidigung der Jagd gesagt. Ersteres stimmt, Letzteres nicht. Tiere in freier Wildbahn sterben selten an Altersschwäche. Sogar überlebt von allen Jungtieren eines Frühlings die Hälfte nicht das erste Jahr. Das ist nicht schlimm. Wo die Sterblichkeit der Jungtiere hoch ist, sind die Würfe entsprechend grösser. So reguliert sich die Natur. Ein junges Leben ist nun einmal Nahrung für andere Tiere und ihre Jungen – Menschen inbegriffen.
Seit Jahren ass ich kein Fleisch mehr aus der industriellen Tierhaltung, und nun hatte ich also wörtlich meinen Platz eingenommen in der Nahrungspyramide – ganz oben neben dem Wolf. Der Jäger, das Raubtier in mir verschaffte sich Raum, ich zwang mich, nicht länger mehr wegzuschauen: Leben lebt vom Leben, Leben tötet, und Leben verfällt, ist vergänglich, stirbt. Ich schickte mich selbst immer wieder hinaus, ich erlaubte dem Kopf nicht, sich hinter bequemen Abstraktionen zu verstecken, ich musste Körper werden wie ein Wolf im Hinterhalt. Von ihm konnte ich viel lernen, denn in unserem Ökosystem ist er unbestritten der beste Jäger.
Das Wild beobachten, ein junges, altes, krankes oder schwaches Tier auswählen, zuschlagen, erbeuten – gerade wie ein Wolf. Natürlich bin ich kein Wolf, ich entreisse meiner Beute nicht die Eingeweide, solange es noch lebt, denn ich stelle mir sein Leiden vor und sehe darin das menschliche gespiegelt. Nicht dass der Wolf grausam ist, er ist kein Untier, er hat bloss kein Bewusstsein dieses Leidens, er ist hungrig, verbeisst sich in den weichen Bauch und frisst zuerst die verderblichsten Teile des Tiers.
Und noch ein Unterschied: Es fällt mir noch immer leichter, ein junges Wildschwein zu schiessen als ein Rehkitz. Weil ich es schöner, niedlicher, hilfloser finde und seinen Tod trauriger und mich selber dabei herzloser. Zugleich protestiert mein Gerechtigkeitsempfinden; es ist nicht recht gegenüber dem Schwein. Denn allein aufgrund ihrer Zahl richten beide ordentlich Schaden an, das Reh in Wäldern und Gärten, das Schwein auf Äckern und Feldern. Ich will mich nicht vom Oxytocin, dem sogenannten Kuschelhormon, überlisten lassen, das uns sanft werden lässt beim Anblick alles Jungen, Schwachen und Alten, und aggressiv, wo dieses angegriffen wird. Natürlich ist das durchaus nützlich, es sollte uns nur nicht verblenden.
Das rote Werk beginnt
In der Ferne zittert der Ruf eines Waldkauzes. Träge kriecht die Dämmerung aus dem Land herauf. Ich klettere vom Hochsitz herunter und gehe zum toten Schwein. Es liegt in einer Lache von schaumig hellrotem, sauerstoffreichem Blut. Der Schuss steckt hinter dem Schulterblatt. Das Tier wird etwa vierzig Kilo wiegen. Ich ziehe mein Jagdmesser aus dem Holster. Das rote Werk kann beginnen. Mein Magen knurrt, ich denke an die erste Leberschnitte, die ich zu Hause alsbald zischend in die Pfanne gleiten lasse.
Mit einem beherzten Schnitt beim Kehlkopf öffne ich den Hals des Schweins und trenne den Kehlkopf vom Zungenbein. Dann spreize ich seine Hinterläufe, stelle mich mit meinen Füssen darauf, fasse nach dem Haarbüschel um den Penis, ziehe daran und schneide ihn auf seiner Rückseite von der Bauchwand frei, unter dem Samenleiter durch bis zu den Hoden und entferne ihn endlich vollends. Die Hoden lege ich gesondert in eine Tüte, in Scheibchen gebraten sind sie eine Delikatesse. Ich mache ein Loch in die Bauchwand, stecke, die Handfläche nach oben, den linken Zeige- und Mittelfinger hinein, gehe mit dem Messer dazwischen und schneide die Bauchdecke von innen nach aussen auf. Danach trenne ich die Schambeinfuge zwischen den Keulen mit einer Spezialsäge, um das dampfende Gedärm oder die Blase nicht zu treffen, und ziehe mit einem Ruck den Schwanz zu mir hin, knacks, schneide den Anus rundherum frei und öffne schliesslich das Zwerchfell.
Mit der rechten Hand taste ich im blutwarmen Brustkorb zwischen den zerschossenen Lungen nach dem Herz, lege meine Hand darum herum, ruckle ein wenig, um zu sehen, ob der Kehlkopf wirklich mitkommt, ziehe alsdann kräftig daran, bis der Brustkorb leer ist, und dann schaufle ich in einem Zug, mit beiden Händen zupackend und ziehend, alles von oben bis unten aus dem Bauchraum ins Gras. Das Schwein ist nun mindestens zehn Kilo leichter. Zügig befreie ich aus dem Haufen der Eingeweide Leber, Herz und Nieren einschliesslich des Nierenfetts. Und stecke alles in eine Tüte. Ich hebe das Schwein an seinen Vorderläufen an, um das restliche Blut aus dem Bauchraum auslaufen zu lassen und lege die Organe wieder zurück.
Ich wische den Schweiss von meiner Stirn. Wie selbstverständlich das alles geworden ist. Ich erinnere mich an den Augenblick, als ich dachte, ich würde es nie wagen, ein totes Tier aufzuschneiden. Das war im Frühling vor fünfzehn Jahren. In der Ruine der Getreidescheune auf meinem mecklenburgischen Hof fand ich gelegentlich tote Katzen. Ich vermutete Krankheiten oder Gift. Da dachte ich an meinen Vater. Sooft er als Tierarzt einen Kadaver öffnete, um an den Organen die Todesursache festzustellen, stand ich daneben und hatte die Nase zuvorderst. Das werde ich auch tun müssen, sagte ich mir, die Katzen sezieren. Und erschrak über dem eigenen Ansinnen. Das werde ich nicht wagen. Um kein Geld. Und auf einmal war ich mir selber fremd, traurig fremd geworden. War ich tatsächlich so verstädtert?
Ich wollte es wagen, aber ich drückte mich.
Der Eintopf der Tierschützer
Sobald ich mich als Jägerin in einem neuen Gleichgewicht zwischen Stadt und Land gefunden hatte, erhielt ich eine zweite Chance. Ich nehme gerne Wild aus, es ist ein schönes Handwerk. Näher an mein eigenes Innerste kann ich nicht kommen, als wenn ich ein Schwein ausweide. Wenn ich es abschwarte und zuschneide, bis es portioniert im Gefrierschrank liegt. Schau hier das Tier, schau da den Menschen, so schiesst es mir immer durch den Kopf. So körperlich, so stofflich, so verletzbar sind wir auch. Und auch wir ernähren uns mit Leben. Ich esse meine Beute, biete sie meinen Nächsten an, gebe sie als Geschenk weg. Denn ich habe das Tier nicht einfach nur so getötet, aus Spass oder als Sport oder Hobby. Die Wörter passen nicht zu dem, was ich mache. Jagen ist ein Teil der Essenszubereitung, geradeso wie Gemüse anpflanzen, fischen, Nüsse sammeln, Wasser schöpfen. Das meiste davon erledigen andere für mich, aber ich will mich nicht vollends davon entfremden. Essen ist auch ein Ereignis, eine Geschichte, eine Art zu leben.
Tierschützer glauben, der Natur einen Dienst zu erweisen, dass es sich aber so einfach nicht verhält, sieht man zum Beispiel an den Dünen der Amsterdamer Wasserversorgung: Hier hat eine Überpopulation von Damwild kahlgefressen, was in Reichweite war, und den Boden mit Dung derart verseucht, dass nun die Dünen mit der Amerikanischen Traubenkirsche, auch Waldpest genannt, zuwachsen. Nicht nur Menschen haben einen ökologischen Fussabdruck, auch Tiere. Das Damwild zerstört in den Dünen die Lebensgrundlage jener Tiere und Pflanzen, die hier heimisch waren.
Als sie mit ihrem Latein am Ende waren, wandten sich die Naturschützer gegen die Tierschützer und riefen die Jäger zu Hilfe. Als Schiessknechte durften sie nun verrichten, wozu sich jene zu gut waren. In den vergangenen zwei Wintern haben sie rund dreitausend Hirsche geschossen. Wäre es nach den Jägern gegangen, dann hätten sie sich über die Jahre um die Tragkraft der Dünen gekümmert und darum den Wildbestand sehr gezielt konstant gehalten. Jagd ist angewandter Naturschutz. Oder müsste es sein.
Trotzdem werfen die meisten Tierrechtsaktivisten beharrlich alles in einen Topf: Haustiere, Nutztiere, wilde Tiere. Sie schreien immer gleich Mord und Totschlag, für sie zählt allein das einzelne Tier. Und es zählt für sie das flauschige Tier wie das imposante mehr als andere. Aber für die Natur hat die Linderung von individuellem Tierleid keine Bedeutung, beim Naturschutz geht es um Biodiversität und um das ökologische Gleichgewicht – und da gilt es, Nutzen zu ziehen aus den rasch zunehmenden Erkenntnissen. Über das erstaunliche Vermögen von Tieren und Pflanzen, über all das, was unseren Augen verborgen bleibt, was da wimmelt, schwimmt, schwebt und fliegt.
Dabei spielen die grossen Tierarten gar keine so bedeutende Rolle. Dass das Nördliche Breitmaulnashorn unlängst unter weltweiter Anteilnahme ausgestorben ist – lediglich Eier und Samen wurden eingefroren –, ist ein Jammer, aber das ist nichts im Vergleich zu all dem gefährdeten kleinen Gewimmel, denn das ist die Grundlage der Ökosysteme. Doch ist das so ungreifbar, dass es kein Mitempfinden weckt.
Naturschutzorganisationen wissen das und haben dennoch nicht den Mut, sich öffentlich dazu zu äussern, so sehr bangen sie um ihr Image. Schlimmer: Sie nehmen das Risiko auf sich, dass sich das ökologische Drama in den Dünen der Wasserversorgung wiederholt. Die Leute wollen mehr Wild sehen? Dann kriegen sie mehr Wild. Und sie wollen nicht, dass es gejagt wird? Dann sagt die niederländische Organisation Natuurmonumenten zum Beispiel auf ihrer Website, ihre Unterstützer möchten, dass «wir alles daran setzen, den Abschuss von Tieren zu verhindern», und dass sie diesem Wunsch Folge leisten werden.
Hirsche und Rehe vernichten durch
Frass und Verbiss zu
drei Viertel des jungen Laubgeholzes
Indessen ergab ihr Grosswild-Report aus dem Jahr 2013, der auf Aussagen von 40 000 Mitgliedern beruht, dass diese doch ein Stück differenzierter denken. Die Hälfte der Befragten fand, wilde Tiere dürften weiterhin bejagt werden, solange der Bestand ausreichend und das Fleisch für den menschlichen Verzehr bestimmt sei. Ein Viertel hatte diesbezüglich keine Meinung.
Inzwischen ist der Bericht stillschweigend von der Seite entfernt worden. Auf Nachfrage heisst es, er sei nicht mehr aktuell. Das kann ich aber zumindest hinsichtlich dieses Aspektes der Umfrage nicht glauben. Immer mehr Menschen essen naturnahes und nachhaltiges Fleisch und stellen fest, wie schmackhaft Wild ist. Das verändert ihre Ansichten über die Jagd. Auch nimmt jedes Jahr die Zahl jener Menschen zu, die selber auf die Jagd gehen. Im letzten Frühjahr waren die Jagdkurse ausgebucht mit einem knappen Tausend Teilnehmern, die Hälfte war unter 36 Jahren und jeder sechste eine Frau. Sie stammen nicht alle von Jägerfamilien ab und kommen auch nicht alle vom Land, es finden sich auch immer mehr Städter unter ihnen. Und sie wissen sehr gut, wie viel auf dem Spiel steht.
Wir leben im Anthropozän. Der Einfluss des Menschen dringt bis in den letzten Winkel unseres Planeten vor. Jedenfalls in Europa leben wir schon längst in einer Kulturlandschaft. Genauso wie übrigens auch das Grosswild, das noch immer als ein letzter Überrest einer Wildnis betrachtet wird, die beschützt werden muss. Fakt jedoch ist: Noch nie gab es in Europa so viele Wildschweine, Rothirsche, Damhirsche und Rehe. Dank der intensiven Düngung durch die industrielle Landwirtschaft steht eiweissreiche Nahrung im Überfluss bereit. Schliesslich macht auch die Erderwärmung die Wälder nährstoffreicher. So entstand ein wahres Schlaraffenland, und es verwundert darum nicht, dass das Wild hier so gut gedeiht. Das hat auch der Wolf längst gemerkt, er kommt gewiss nicht zur Erholung nach Westeuropa.
In Deutschland, wo ich hauptsächlich jage, gelingt es den Jägern seit Jahren nicht mehr, die Überpopulation des Grosswilds einzudämmen, vor allem Wildschweine sind eine Plage. Dass sie uns in den dichtbevölkerten Niederlanden bis jetzt nur gebietsweise lästig werden, hat einen einfachen Grund: Lediglich Rehe dürfen sich frei ausbreiten; Rot- und Damwild oder Wildschweinen wird nur wenig Platz eingeräumt. Tauchen sie doch anderswo auf, werden sie abgeschossen, jedoch entkommen vor allem Schweine immer häufiger.
Trophäen-Jäger
Beim herkömmlichen Niederwild ist der Trend gerade umgekehrt, es geht bergab. Hasen, Kaninchen, Fasanen und Rebhühner können sich gerade noch mit Mühe behaupten, ebenfalls die meisten Ackervögel. Sie brauchen kleinteilige Landschaften mit wechselnder Vegetation, Hecken und Sträuchern, wo sie ruhen und sich verstecken können vor Raubwild und -vögeln. Genau solche Landschaften gibt es immer weniger. Zu allem Unglück sorgen moderne Unkrautvernichtungsmittel für ein Massensterben unter den Insekten, so dass Vögel und kleine Säugetiere sogar noch ihrer Nahrung beraubt werden. In Deutschland ist die Situation mittlerweile so beunruhigend, dass immer weniger Niederwild bejagt wird. Nur der Wechsel zu nachhaltiger Viehhaltung und Bewirtschaftung der Felder wird eine Wendung zum Besseren bringen können. Jedenfalls trägt eine wachsende Zahl an Niederwildjägern ihren Teil dazu schon bei, ihre Jagdreviere naturgemässer zu gestalten.
Es sind nicht nur die Tierschützer, die bloss Augen haben für ihre eigenen Kuschelsorten, viele Jäger sind genauso befangen, gerade wenn es um den Rothirsch mit seinem mächtigen Geweih geht. Ungeachtet des Verbots füttern sie die Tiere im Winter, um grössere Trophäen und stärkere Populationen zu erhalten. Dass sie die Hirsche mit Vorliebe während der Brunft jagen, wenn sie weniger scheu sind, macht es nur noch schlimmer. Denn das Fleisch ist in dieser Zeit wegen des hohen Testosteron-Gehalts ungeniessbar. Allein der Trophäe wegen werden darum rund 150 Kilo Fleisch achtlos weggeworfen.
Das ist alles nicht neu. In dem Buch «Jagdwende» von 2000 stiess ich auf eine Aussage, die wohl aus den sechziger oder siebziger Jahren stammt: «Das Denken in Arten muss durch das Denken in Biotopen abgelöst werden: nicht die Art ob ‹selten› oder ‹jagdlich interessant›, darf im Zentrum unserer Bemühungen stehen, sondern die Aufrechterhaltung der natürlichen Prozesse.» Das sei unsere heilige Pflicht, fand Egon Anheuser, der rund zwanzig Jahre Vorsitzender des Deutschen Jagdverbands war.
Ungeachtet seiner Autorität fand er zunächst wenig Gehör, denn die Jäger sind konservativ, inzwischen findet sein Aufruf stets grösseren Rückhalt und die ökologische Jagd entwickelt sich. Und diese hat für Jäger wie Tierschützer keine einfache Botschaft: Wald vor Wild. Hirsche und Rehe vernichten durch Fraß und Verbiss bis zu dreiviertel des jungen Laubgehölzes, darum müssen Waldbesitzer Unsummen in Aufforstung und Zäune stecken. Mitunter so viel, dass sich nur noch industrieller Anbau überhaupt lohnt.
Aber es geht auch anders. Mit Mischwäldern, die sich selbst verjüngen und jedes Jahr ausgedünnt werden können, die ausreichend Holz abwerfen und ausserdem auch die Klimaveränderungen auffangen können. Und das soll dann auch noch wirtschaftlich und also in jeder Hinsicht robust sein, sogar finanziell? Ja, das geht. Man schaffe die Zäune weg und bejage das Wild, das braucht dann zwar etwas Munition und viel Zeit, aber im Gegenzug erhält man nachhaltiges Fleisch. Und man bejage das Wild so intensiv, bis sein ökologischer Fussabdruck seinen Lebensraum nicht stört, aber ihn unterstützt. Man folge den Ökosystemen, bewege sich mit der Natur, sowohl in der Bewirtschaftung wie in der Schadensbekämpfung, dann schenkt sie uns am meisten.
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Schriftstellerin und Jägerin
rbl. · Seit die niederländische Schriftstellerin Pauline de Bok nach der Jahrtausendwende in Mecklenburg ein leerstehendes Bauernhaus fand, lebt sie die Hälfte des Jahres in dem umgebauten Stall, die übrige Zeit in Amsterdam. 2006 erzählte sie die Geschichte von dem Haus und der Landschaft in ihrem Buch «Blankow of het verlangen naar Heimat» (dt. «Blankow oder Das Verlangen nach Heimat», Insel-Verlag. Im vergangenen Jahr erschien im Verlag C. H. Beck ihr Buch «Beute. Mein Jahr auf der Jagd». Pauline de Bok schildert darin ihre Erfahrungen als Jägerin, der die Jagd zur zweiten Leidenschaft neben der Literatur geworden ist. Die Schriftstellerin übersetzt ausserdem aus dem Deutschen ins Niederländische, u. a. Bücher von Sherko Fatah oder Wolfgang Herrndorf.
Das Jagdjahr beginnt am 1. April und dauert bis zum 31. März des nächsten Jahres. Es folgt also dem Vegetationszyklus und den Wachstumsperioden. Die Jagd auf Wildschweine ist in Mecklenburg ganzjährig gestattet, sofern es nicht um führende Bachen handelt; für andere Wildarten gelten zeitliche Einschränkungen. Der vorliegende Text erschien letzten Sommer in der Wochenzeitschrift «Groene Amsterdammer». – Übersetzung aus dem Niederländischen von rbl.