Noch nie ging es den Menschen besser als heute. Und trotzdem nehmen Wut und Unzufriedenheit allenthalben zu. Populisten wissen dies zu bewirtschaften, schreibt die niederländische Schriftstellerin Pauline de Bok.
Durch das breite Fenster meines zur Wohnung ausgebauten Kuhstalls blicke ich über die schneebedeckten Felder Mecklenburgs, die Sonne geht auf, die Meisen streiten sich um den Futterknödel, über den Hof hoppelt ein Hase. Der Deckel des Wasserkessels klappert auf dem Herd, langsam verzieht sich die Nachtkälte aus dem Haus.
Letztes Jahr im Januar habe ich hier draussen im Schnee ein Damkalb geschossen, vom Fenster aus hatte ich gesehen, wie sich das Rudel näherte. Kurz darauf stand ich mit dem Gewehr draussen. Das Tier fiel im Schuss. Eineinhalb Jahre habe ich fast ohne Unterbrechung in diesem Jagdgebiet gelebt, allein mit der Landschaft, dem Wetter und den Wildtieren. Wie oft stand ich im Morgengrauen am Fenster, um mich dann abrupt vor den Bildschirm zu setzen, die niederländischen Zeitungen anzuklicken und im täglichen Wahn zu versinken.
Es passierte so einiges. Europa war in seinen Grundfesten erschüttert durch die Massen von Kriegsflüchtlingen und Notleidenden, die hier Zuflucht suchten. Ich würde es genauso machen, wenn ich nichts mehr zu verlieren hätte. Aber es waren wirklich viele. Welche Verwerfungen sich daraus ergeben könnten, wusste niemand.
Zu Hause im Ausländerviertel
Auf dem flachen Land war nichts davon zu bemerken, eine Frau mit Kopftuch war nach wie vor einfach eine einheimische Dorfbewohnerin. Und als ich einmal einen dunkelhäutigen Mann erblickte, verrenkte auch ich mir fast den Hals. Manchmal geriet ich in ein erbostes Gespräch über Flüchtlinge. Musste ich nicht widersprechen? Weil ich nicht feige den Mund halten wollte, outete ich mich: «In Amsterdam wohne ich in einem Ausländerviertel, unter Türken, Marokkanern, Surinamern, Antillianern und noch vielen anderen, und ich fühle mich da zu Hause, es ist meine Heimat.»
Dann herrschte erst einmal Schweigen, und die anderen mässigten sich etwas. Nicht, dass das geholfen hätte – Xenophobie ist ein Reflex aus der Tiefe unseres Überlebensinstinkts. Wenn ich auf der Jagdkanzel auf Damwild und Sauen ansitze, sehe ich das auch: Alles, was das Wild nicht kennt, macht ihm Angst, es flieht, oder aber es versucht, Eindringlinge von seinem Territorium zu vertreiben.
Immer wieder hielt mir das Wild einen Spiegel vor, ich suchte nicht nach dem Menschlichen in ihm, ich suchte nach dem Tier in uns. Auch wir sind ohne unsere Instinkte nicht überlebensfähig. Gleichzeitig sind wir ihnen nicht völlig ausgeliefert. Und unsere Errungenschaften haben wir selbst hervorgebracht, genauso wie die Probleme, mit denen wir kämpfen. Die Statistiken sagen, dass weltweit immer weniger Menschen in Kriegen getötet werden, dass in den Niederlanden die Kriminalität weiterhin sinkt und dass die Menschen im Land mit ihrem Leben zufriedener sind denn je, jedenfalls im privaten Bereich. Gesellschaftlich und politisch dominieren Wut und Angst.
Ich verfolgte, wie die Zustimmung zum Brexit stieg, wie die Anhängerzahl Marine Le Pens, der AfD und sogar Donald Trumps beständig zunahm. In den Niederlanden war Twitter-König Geert Wilders längst unbesiegbar, dort hatte ich bereits gelernt, den Populismus ernst zu nehmen. Nun breitete er sich aus und griff auf der ganzen Welt um sich. Wieso hatte ich geglaubt, so schlimm werde es schon nicht kommen?
Immer öfter dachte ich an die neunziger Jahre zurück. Als zusammen mit meiner Jugend auch der Kalte Krieg vorbei war. Jeder proklamierte in den Fussstapfen von Fukuyama lauthals das Ende der Geschichte, der Begriff Ideologie flog auf den Müll. Von nun an herrschte die Wahrheit. Der freie Westen, die freie Marktwirtschaft, die Freiheit der Meinungsäusserung hatten gesiegt.
Unsere Überlegenheit brauchte sich nur noch überall durchzusetzen, das konnte nicht so schwierig sein, wer wollte denn nicht gern mit uns tauschen, unser Wohlstand war unser Argument, vielleicht ergänzten wir die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte noch um einen weiteren kleinen Artikel, einfach, weil es möglich war, aber damit hatte es sich dann auch. Innerhalb von ein, zwei Jahrzehnten würde der Übergang vollzogen sein. Was mir vor allem von Hybris zu zeugen schien.
Nie habe ich mich nach jener Zeit zurückgesehnt. Langweilig fand ich sie, die Aufbruchsstimmung war selbstgefällig, um mich herum ging es um Geld und Anlagetipps. Wir befanden uns in einer Seifenblase, und die Scham war vorbei.
Und dann bekam unsere schöne alte Welt Haarrisse. Das neue Millennium begann mit «Nine/Eleven». Als käme auf unsere christlichen Kreuzfahrten in den Nahen Osten erst Jahrhunderte später eine gewalttätige Erwiderung. Schleichend wurde es schlimmer. Überall, in Ost und West, kochten immer mehr Menschen vor Wut, fort mit den schönen Worten und abgehobenen Meinungen. Alles, aber auch wirklich alles sei die Schuld der Eliten, der Globalisierer, der Profitjäger, der Lügner.
Ist das aus der Luft gegriffen, postfaktischer Unsinn? In meinem Kuhstall hörte ich im Radio Politiker und Journalisten aus ihrem paternalistischen Echoraum tönen, dass sie die Bevölkerung zur Vernunft bringen müssten. Das Wir-Sie-Schema in Reinform. «Lasst es sein», stöhnte ich dann, denn nichts ist so kränkend wie Verkennung und Ausgrenzung, die sie damit zur Schau trugen. Es aktiviert die gleiche Hirnregion wie körperlicher Schmerz.
Die Wut griff um sich, angeheizt von Anführern und Anführerinnen, die ihre eigenen Fakten erschaffen. «Hör auf dein Gefühl», hatte die Generation der sechziger Jahre proklamiert. Mittlerweile galt «Ich empfinde das nun mal so» als entscheidendes Argument. Jede Generation gebiert die folgende.
Eineinhalb Jahre habe ich den Zustand der Welt vom Mecklenburger flachen Land aus verfolgt, wo sich das Ende der Eiszeit bis heute tief in die Landschaft eingegraben hat, wo Dreissigjähriger Krieg, Zweiter Weltkrieg und realsozialistische Diktatur ihre Spuren hinterlassen haben. Und mit jeder Zeitung, die ich las, wurde die Frage drängender, was wir eigentlich sind, wir Menschen, im Licht der stillen Welt um mich herum und im Licht der wütenden Welt auf meinem Bildschirm.
Erst während meines Aufenthaltes hier begann mir zu dämmern, dass «meine Welt» ihrem Ende entgegenging. Schon seit dem Jahr 2000 betonte ich oft halb scherzhaft, dass ich ein Kind des vorigen Jahrhunderts sei. Aber erst jetzt erkannte ich die ganze Spannweite dieser Bemerkung. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren wir zu der Überzeugung gelangt, wir würden die Welt humaner machen.
Wir sahen nicht, dass wir zugleich noch immer auf einem Affenfelsen hockten, wir vergassen, dass Macht nicht auf Vernunft gegründet ist und dass wir Tiere sind, wenn auch sehr schlaue Tiere. Und wir vergassen, was wir im Grunde sind: evolutionäre Wesen im Stadium Mensch. Noch immer drehte sich alles um das Überleben der Stärksten – auch wenn ich das lange Zeit nicht wahrhaben wollte.
Städtische Lebenslust
«Brave New World» kam mir in den Sinn, die beängstigende Welt in ferner Zukunft, und ich erkannte, dass mich die Zeit eingeholt hatte. Aldous Huxleys Dystopie hatte bereits begonnen, wir sind manipulierbar bis in unsere Gene, wir werden überschüttet von einem Brei aus (Des-)Information, (Fake-)News, Bild- und Tonmanipulationen. Der Digitalisierung und Roboterisierung kann sich niemand mehr entziehen. Ob wir wollen oder nicht, wir sind ihnen ausgeliefert. Die Vernunft hat nie regiert.
Ich kehrte nach Amsterdam zurück. Ich schaute umher, als sässe ich noch auf meinem Hochsitz, und konnte mich nicht sattsehen. All die Menschen in dem grossen Gewusel auf der Strasse und in den Parks, dicht beisammen in ihren Wohnungen, jeder fühlt sich sicher, egal, wer man ist. Die Stadt flirrt vor Lebenslust. Er macht weiter, der Mensch, wie auch immer, nicht umsonst ist er das Tier, das wie kein anderes imstande ist, sich anzupassen, stets aufs Neue.
Deprimiert mich hin und wieder die Vorstellung, im Menschen lebe das Tier fort, so finde ich darin auch eine neue Zuversicht. Und das bietet – sosehr es mich beim Gedanken an die Zukunft schaudert – doch wieder eine Perspektive. Ich brauche die Welt nicht auf meinen Schultern zu tragen, ich kann sie nicht einmal begreifen – aber ich liebe das Leben, und ich halte mich an meiner Hoffnung fest.
Die Schriftstellerin Pauline de Bok lebt in Amsterdam. Seit der Jahrtausendwende lebt sie zeitweilig in Mecklenburg in einem umgebauten Stall. Daraus ging 2006 das Buch «Blankow of het verlangen naar Heimat» hervor (dt. «Blankow oder Das Verlangen nach Heimat, Verlag Weissbooks 2009).
Übersetzung aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert.